In Hans Platzgumers neuem Roman "Am Rand" nimmt ein Einzelgänger Abschied von der Welt, in der er nie wirklich heimisch war. Eine Erzählung vom Fremdsein, dem Töten und der Verweigerung, die ebenso stimmig wie beklemmend ausfällt.
"Wenn Sie schwindelfrei sind, kriechen Sie bitte zum Rand der Klippe vor. Beugen Sie sich ein wenig darüber und blicken Sie hinunter. Spüren Sie den Drang, der Sie hinabzieht? Es ist nicht nur die Gravitation, auch die Schönheit dieses Raums ist es, seine Tiefe, die Sie einlädt."
Oben auf dem Gipfel ist man an diesem bewölkten Oktobertag alleine - ein Umstand, der der Ausführung eines letzten großen Plans recht zuträglich ist. Frühmorgens aufsteigen, sein Leben niederschreiben, einen letzten Versuch wagen, sich zu erklären, dann den finalen Schritt machen. Hans Platzgumers neuer Roman beginnt und endet am Gipfel des Vorarlberger Bocksberges. Hier oben sitzt Gerold Ebner, am Rand.
Aus den Tiefen in die Höhe
Als eine Art Bekenntnis versteht dieser die Niederschrift seiner Biografie, ohne in Schuldkategorien zu denken oder den reumütigen Büßer zu mimen. Viel eher lässt sich der vollgeschriebene Notizblock, den Gerold Ebner nach dem allerletzten Satzzeichen unter einem Felsbrocken einklemmen und seinem Schicksal überlassen wird, als versuchte Selbsterklärung begreifen, als Statement eines Menschen, der mit seinem Leben abgeschlossen, seine Grenzen erkannt hat. Die zurückliegenden Ereignisse, die ihn schließlich auf den Berg geführt haben, rekapituliert der Erzähler mit der beklemmend distanzierten Routine eines, der das Geschehene lang genug reflektiert hat und schließlich einen einzigen Ausweg für sich erkannt hat.
Er erzählt vom Aufwachsen als Sohn einer ehemaligen Prostituierten, von der Fremdheit in der Kleinstadt, folgt seinem jugendlichen Ich auf Baukräne und zu Schlägereien und verliert sich in zeitlosen Träumereien. Nicht zuletzt steht der Tod als treuer Begleiter in den etwa vierzig Jahren seines Lebens im Zentrum: "Am Rand" fährt nämlich eine nicht unbeachtliche Parade an Toten auf, der Erzählbogen spannt sich von der mumienhaften Leiche des Nachbars, dessen Tod monatelang unentdeckt blieb, bis hin zum unausgesprochen im Raum stehenden Freitod des Protagonisten.
Bei den zentralen Ereignissen hat Gerold Ebner selbst seine Hände im Spiel. Den tyrannischen Großvater erstickt er im Schlaf, seinem besten Freund, der nach einem Arbeitsunfall ein trostloses Leben voller Schmerzen führt, leistet er auf dessen Bitte hin Sterbehilfe. Zweifellos überrascht, wozu er fähig ist, aber nicht von Reue und Schuldgefühlen zerfressen schildert der Ich-Erzähler seine Gedankengänge und seine Gefühle, durchaus mit der Absicht, beim Leser Verständnis zu finden. Dass er kein Monster sei, steht da geschrieben, und dass es selbstgerecht wäre, sich ein Urteil über einen Fremden zu erlauben. "Ich will offen und ehrlich sein, mir gegenüber, Ihnen gegenüber."
Wenige Monate vor seinem letzten Gipfelaufstieg verliert Gerold Ebner auf tragische Weise seine Freundin samt Findelkind, das den beiden zurückgezogen lebenden Menschen eine Ahnung von Familie gegeben hatte, bei einem Bergunglück. Der letzte Gang des in vollendeter Einsamkeit Zurückgebliebenen auf den Berg erscheint narrativ von diesem Moment vorgezeichnet und gleichsam doch etwas plakativ. Es sind dies die wenigen schwachen Momente des Romans, wenn Platzgumer seinen Erzähler alpine Metaphern bemühen lässt oder die Bergwelt eine Andeutung zu mystisch imaginiert wird. In einem Felsbrocken wird dann die "Visage eines Glurnsers" entdeckt und auf dem Gipfelkreuz leuchtet die Inschrift "Das Leben ist der Weg zum Berg" wie ein Untertitel, der einem Filmplakat durch die Offensichtlichkeit seiner Aussage die Schönheit nimmt. Diese Überbetonung des alpinen Settings und der narrativen Rahmenhandlung hätte es nicht gebraucht, denn die Erzählung besticht an sich durch großartig auf das wesentliche reduzierte Sprache, eine tiefsinnige Poetik und einen aufrechten Erzähler.
Hitotsu
Gerade zu Beginn fühlt man sich an Paulus Hochgatterers "Über Raben" erinnert, in dem es einen der beiden Protagonisten als Reaktion auf biografische Brüche ebenfalls in die Berge treibt, um sich einerseits der Welt zu entziehen, als auch um sich gleichsam in Stellung gegen sie zu bringen. Schnell aber wird trotz frappierender Parallelen in Details die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der beiden Romane deutlich. Wo Hochgatterer Angaben zur Vorgeschichte weitgehend ausspart und seine Geschichte maßgeblich im Moment ansiedelt, ist Platzgumer in "Am Rand" deutlich auskunftsfreudiger und erzählt aus rückblickender, abgeschlossener Perspektive. Dennoch eint die beiden Romane ihr Faible für Außenseiter und die Überzeugung, dass sich ein Mensch und seine Handlungen nie annähernd vollkommen verstehen lassen. Der grundsätzliche Wunsch des Individuums, verstanden zu werden, stellt dabei ein spannendes Paradoxon dar, das "Am Rand" implizit mitträgt.
Diese Grundhaltung des Romans ergänzt sich trefflich mit der aus dem Karate – „Hitotsu“/„Erstens“ – entliehenen Auffassung Gerold Ebners, alles existiere gleichberechtigt nebeneinander und ergebe erst in Summe Sinn: „Alles war gleichbedeutend, nichts wichtiger, nichts weniger wichtig als anderes. (…) Nur im Nachhinein werden die Zusammenhänge deutlich, in denen all die Hitotsus meines Lebens standen.“
„Am Rand“ ist neben einer Herausforderung konventioneller Moralvorstellungen auch die erregende Erzählung eines am Rande der Gesellschaft, oder besser eigentlich in ihren unbeachteten Peripherien, beheimateten Menschen. Er bitte darum, nicht weltfremd genannt zu werden, meint der Protagonist einmal und doch ist man dazu geneigt, ihm gerade diesen Stempel aufzudrücken – was unweigerlich mehr über die eigene Lesart und die Selbst-Verortung in der Gesellschaft aussagt, als über das Gelesene selbst: Über 200 Seiten lang begleitet man einen zwischen Fatalismus und Romantik oszillierenden Menschen und reflektiert dabei gesellschaftliche Positionen und Prozesse genauso, wie man von der Geschichte selbst fasziniert wird. Und beginnt dabei, konsensuale Denkmuster neu zu hinterfragen. Dem Indierock-Pionier und Schriftsteller Hans Platzgumer ist mit seinem fünften Roman ein beeindruckendes, beklemmendes Porträt eines Einzelgängers gelungen, dem das "Miteinander" der Welt stets fremd blieb. Mittendrin, am Rand.
Am Rand
von Hans Platzgumer
erschienen bei Zsolnay
gebundene Ausgabe, 208 Seiten, 20,50€ (A)
ISBN: 978-3-552-05769-2