Ort der begrenzten Unmöglichkeiten

Elf Menschen nehmen sich unabhängig voneinander in derselben grönländischen Nacht das Leben. Anna Kims "Anatomie einer Nacht" geht dabei weniger dem "Warum?" nach, vielmehr arbeitet es sich in selektiver Präzision an die einzelnen Biografien heran.

Amarâq gibt es nicht. Amarâq ist ein fiktives Dorf, Zentrum des Geschehens in Anna Kims Roman Anatomie einer Nacht. Es ist ein absoluter "Nicht-Ort", fernab des öffentlichen Interesses, von fragilen Strukturen durchzogen und in der vollkommenen Abgeschiedenheit Grönlands. Die Einsamkeit "hat den Inhalt Amarâqs verdrängt, ihn weggeschoben und sich ausgebreitet, unübersehbar, unaustauschbar." Kims Anatomie einer Nacht ist das nicht unriskante Unterfangen, dieser angedeuteten Leere einen Inhalt zu verleihen.

Als wäre es eine Warnung, wird schon früh im Buch festgehalten, dass es einer besonderen Sichtweise auf dieses "Nichts" bedarf. Eine, die nicht nur nach Gewohntem und Erwartbaren sucht, sondern sich auch auf scheinbar Irrationales und Unwägbarkeiten einlässt. Denn dem extremen Charakter Amarâqs auf physischer Ebene ist auch seine soziale Grenzlage gegenübergestellt. Ohne sich in zum Scheitern verurteilten Kausalketten zu ergehen finden dabei Kälte, Dunkelheit und Schutzlosigkeit des Ortes ihre Entsprechung in mehrheitlicher Arbeitslosigkeit, schwierigen Familiensituationen und hoher Mortalität - nicht zuletzt durch eine immense Freitod-Rate.

Eine Möglichkeit wächst heran

Kim erzählt von der Sehnsucht nach Liebe und ihrem Scheitern; von Kindheitstraumata, fehlender Aufmerksamkeit und Vergewaltigungen; von gescheiterten Hoffnungen und gesellschaftlich determinierter Ausgrenzung. Fragmentartig werden die Geschichten hinter der Fassade des manifesten Desinteresses berührt - an die sprunghafte Qualität der Erzählweise muss man sich dabei erst gewöhnen. Wenn die einzelnen Bruchstücke dann aber nach und nach mehr Sinn ergeben, sich teilweise ergänzen und dasselbe in unterschiedlichen Sprachen auslegen, eröffnet sich im besten Fall ein Gespür für dieses Gefühl namens Amarâq.
Ausgestattet mit dem Wissen, im Buch elf "unabhängig voneinander" in einer einzelnen Nacht stattfindende Suizide im Buch zu erleben, tastet man sich die narrativen Pfade entlang und läuft dennoch nicht Gefahr, die Ereignisse rational oder monokausal einordnen zu können. Diese Nacht vom 31. August auf den 01. September, durchzogen von Rückblenden und
mythischen Einstreuungen, begleitet mit nüchterner und doch gewaltiger Sprache elf Personen bei ihrem finalen Entschluss, den Tod dem Leben vorzuziehen. In ihnen ist zuvor der Freitod
zur ernsthaften Option herangewachsen, bei einigen auch zur Sehnsucht geworden. Was Kims Erzählung nicht enthält sind Abschiedsmetaphorik und der Versuch, die dem Menschen eigene
Verzweiflung vor solch einer Tat abzubilden. Anatomie einer Nacht verweist im Titel zwar auf die letzten Stunden der Protagonisten, ist in
Wirklichkeit aber vor allem eine Beschäftigung mit den Leben vor dem Ende.

Wie ein Knäuel unzähliger, unterschiedlicher und doch einander naher Fäden nimmt sich Anna Kims Band zu Beginn aus. Nach und nach werden die losen Enden aufgenommen und ein Stück weit aufgerollt. Etwa jener Strang, der von Mikileraq erzählt, von ihrem aus einer Vergewaltigung entstandenen Kind, das sie zurückließ, um ein Lehramtsstipendium in Kopenhagen anzutreten. Von der Fremdheit, die sie bei der Rückkehr nach Amarâq Jahre später empfindet und der Schuld und Ungewissheit, was mit ihrem Baby damals passiert sei.
Oder der Strang der 14-jährigen Julie, die sich aus einer kurzen Affäre mit dem doppelt so alten Polizisten Jens eine Flucht aus der grausamen Familienrealität verspricht und wenige Tage
später mitansehen muss, wie ihre Nachfolgerin sich bereits häuslich in dessen Wohnung einrichtet.
Kims Erzählweise zeichnet sich dabei durch den bewussten Mut zur Lücke aus. Oder sogar durch die Überzeugung, mit der Schilderung selektiver Momente die Illusion eines Menschen
Leben vollständig begreifen zu können, von vornherein zerstören zu können. Gleichzeitig nimmt das Buch von Seite zu Seite zunehmend die ja ohnehin unverständliche Hoffnung, die elf Suizide zu verstehen. Anatomie einer Nacht bringt keineswegs reine Einzelschicksale aufs Tapet. Alle zeichnen sich durch kulturelle Traumata und prekäre Lebensverhältnisse aus.
Zuletzt bleibt aber die Erkenntnis, der Komplexität einer Biografie mit rationalem Anspruch niemals beikommen zu können. Was der ultimative Auslöser gewesen sein könnte; ob es einen
solchen überhaupt braucht; welche Lösungen unter Umständen noch offen gestanden wären und ob sich alle Opfer überhaupt nach einer solchen gesehnt haben... das sind Fragen, die nur
eine Ahnung von der Verfahrenheit einer Situation geben können. "Jede versäumte Gelegenheit, sagt man in Amarâq, ist ein kleiner Tod."

Nachtwache halten

 

All dies gelingt Anna Kim mit einer auf den ersten Blick hochgradig nüchternen Sprache, mit Gedankensprüngen und der fast beiläufig wirkenden Verwendung direkter Rede. Die Sprachgewalt vermittelt sich dabei vor allem über die eingesetzten literarischen Bilder, die oftmals mit der Schwärze und dem Dunkeln, der Fremde und der Enge zu tun haben. Die sich in den Nächten destillieren, indem sie den Fokus auf den Schmerz richten, "indem sie die Zeit ausradieren, das Vergangene und das Zukünftige, und es mit einem Mal ausschließlich die Gegenwart gibt, das Hier und Jetzt." Anatomie einer Nacht ist eine große Erzählung über ein Ort gewordenes Gefühl. Eine, die zwar durchaus auf Distanz geht, in ihrer Ehrlichkeit zur Geschichte aber eine beklemmende Empathie erzeugt.
Den Fehler, die Gültigkeit lediglich auf die grönländische Einschicht zu beschränken, sollte man jedoch nicht begehen. Auch nicht den, aus Kims Band ein allein düsteres Bild von den dortigen Lebensbedingungen zu zeichnen und sich in den dortigen, fraglos enormen Suizidraten bestätigt zu fühlen. Anatomie einer Nacht könnte überall angesiedelt sein. Denn zuletzt ist es eine Geschichte über endgültig gewordene Einsamkeit. Und damit gleichzeitig zutiefst lebensbejahend.
 

Anatomie einer Nacht
von Anna Kim
erschienen bei Suhrkamp
broschiert, 299 Seiten, 10,30€ (A)
978-3-518-46478-6

Julius Schlögl