Lampedusa ist ein ambivalenter Ort. Eigentlich geografisch abgeschieden, liegt diese Insel doch im Zentrum europäischer Geschichte. Ulrich Ladurners "Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel" ist eine gewissenhafte Erzählung von den Problemen der Insel, ihrer unsteten Vergangenheit und vom Leben am Rande der Festung Europa.
Lampedusa kennt man. Nicht wie andere Mittelmeerinseln wegen ihrer landschaftlichen Schönheiten, massiven Hotelbauten oder billigen Sangria-Kübeln, Lampedusa kennt man aus den Nachrichten. Von Amateur-Kameras aufgenommene, verwackelte Bilder von hoffnungslos überfüllten Schlepperbooten, Portraits völlig entkräfteter Afrikaner, die obligatorische Pressekonferenz des Innenministers. Die winzige Insel, südlichster Punkt Europas, ist Synonym geworden für die keinesfalls auf den "europäischen Werten des Humanismus" errichtete Festung Europa. Und gleichzeitig zum Schlagwort verkommen, unter dem man sich wenig vorstellen kann, von dem kaum jemand Näheres weiß.
"Heiß umfehdet, wild umstritten/liegst dem Erdteil du inmitten?"
Ulrich Ladurner, Redakteur bei der "Zeit" mit ausgeprägtem Faible für geschichtsträchtige und periphere Orte, hat sich der Insel in den letzten 20 Jahren in mehreren Reisen genähert und in ihrem Alltag begleitet. Herausgekommen ist dabei die soeben erschienene Betrachtung "Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel".
Unaufdringlich und ohne simple Erklärungsstrategien für die multiplen Probleme des Eilands verwebt Ladurner Gespräche mit der Bevölkerung, eigene Erlebnisse und literarische Zeugnisse miteinander zu einem Netz aus Geschichten, in dem man unweigerlich hängenbleibt. Weder an einer Manifestation der Stereotype, noch an einer unverhältnismäßigen Exotisierung dieses Fleckens Erde interessiert, tastet sich "Lampedusa" durch die bewegte Vergangenheit und die stürmische Gegenwart. Von wechselnder Herrschaft während der Kreuzzüge, den großen Plänen des russischen Kaiserhauses mit der Insel und der Faszination der Weltliteratur für den abgelegenen und bedeutungsträchtigen Ort erzählt Ladurner ebenso wie von der Bodenerosion, überfüllten Flüchtlingslagern und dem Nährboden für populistische Politiken.
In einer pessimistischen Lesart ließe sich Lampedusa als Symptom für die Krankheiten und Probleme Europas betrachten, als Ort, in dem sich ein rigides Asylregime, eine schwache Nachbarschaftspolitik und die Interessen einiger weniger verdeutlichen. Seit Jahrhunderten bewegt sich die Bedeutung der Insel Lampedusa mit ihrer exponierten wie abgeschiedenen Lage zwischen der Rolle als geopolitischer Spielball und dem Schicksal eines peripheren Nicht-Ortes. Ob Katharina II., die Ritter der Kreuzzüge, die Alliierten im Zweiten Weltkrieg, ob William Shakespeare, Giuseppe Tomasi oder Ulrich Ladurner - das historisch konstante Interesse an Lampedusa zeigt, dass die winzige Insel ihrer Abgeschiedenheit zum Trotz ein europäisches Symbol geworden ist.
"Lampedusa ist ein Versprechen. Das war es im Laufe seiner Geschichte, und das ist es heute. Es ist das Versprechen auf Rettung und Erlösung. Doch Lampedusa kann es nicht halten. Denn die Insel ist abhängig, klein und schwach. Sie ist überfordert." Ein Versprechen für alle, die "draußen" sind. Europa, das gelobte Land, die Verheißung eines besseren Lebens. Eine makabre Versicherung für die auf der anderen Seite. Solange wöchentlich Meldungen mit horrenden Opferzahlen aus Lampedusa eintreffen, ist Europa noch erstrebenswert, der vielschichtigen Krisen ungeachtet ein starker Ort. Dass vor den Toren der "Festung Europa" tausende Leichen liegen, ist bittere Gewissheit und doch kaum Anlass für die europäische Bevölkerung, die Abschottungspolitik zu hinterfragen und gegen das System "Frontex" zu protestieren.
Ladurners Lampedusa-Geschichte ist ein ungemein wertvoller Beitrag zur Erweiterung des Bildes, das man von diesem hat. Es ergänzt die wenigen Informationen, die man über die Insel aus Medien erhält um überraschende Details, um Erzählungen der Bewohner und Schilderungen der politischen Probleme. Das Buch offenbart aber auch eine charakteristische Lücke: Die Flüchtlinge kommen kaum zu Wort, sie verbleiben anonyme und gesichtslose Menschen. Menschen ohne Stimme. Asylanten und Flüchtlinge sind in Europa nur Teil eines pauschalisierenden Diskurses, sie werden in Aufnahmezentren und Lagern angehalten, dürfen keiner Arbeit nachgehen und haben auch sonst kaum Möglichkeit, im alltäglichen Leben in Erscheinung zu treten. Wer illegal nach Europa gekommen ist, tut sowieso besser daran, nicht aufzufallen. Ein systematisches Problem, das öffentliche Diskussionen und die Berücksichtigung der Flüchtlingsperspektive verunmöglicht. Indem die Stimmen derer, um die es wesentlich geht, marginalisiert werden, lässt sich das europäische Asylregime aufrecht erhalten. Gesprochen wird über Grenzzäune, Patrouillen und Schlepper, kaum über Menschen.
"Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel" liegt da ein ganz anderer Ansatz zugrunde. In vordergründig nüchterner und einfacher Sprache holt Ladurner weit aus, erzählt von Eroberungen, Besiedlungen und Skurrilitäten genauso wie von Herrschaftsverhältnissen, Ohnmacht und dem Arrangieren mit prekären Bedingungen. Aus dem, was Bewohner, Politiker und Besucher zu erzählen haben und aus den eigenen, über die Jahre gesammelten Beobachtungen und Anekdoten entsteht so ein umfangreiches Panorama, dem man den Wunsch, weder zu dramatisieren, noch zu beschönigen, hoch anrechnen muss.
Dank an Chiara Tamburini für das Titelfoto!
Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel
von Ulrich Ladurner
erschienen im Residenz Verlag
Hardcover, 144 Seiten, 19,90€ (A)
ISBN: 9783701733316