Der eben erschienene Band "Topografie der Erinnerung" bietet die besten Essays des Historikers und Schriftstellers Martin Pollack in gesammelter Form und schließt thematisch den Bogen zum 2014 veröffentlichten "Kontaminierte Landschaften": Schreiben wider das Vergessen, Erinnern an das Unbequeme, Bewahren der geistigen Unruhe.
Verschweigen, Verdrängen, Vergessen. Der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit und dieser schweren Last namens Schuld ist nicht nur in Österreich lange ein reichlich passiver gewesen. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, mit der industrialisierten Vernichtung von Menschen und den Verstrickungen unzähliger Biografien mit Gewalt und Unterdrückung unterblieb häufig, auch heute noch ist Erinnerungskultur keine Selbstverständlichkeit. Gerade im unmittelbaren Umfeld, in der Familie, an den Orten, die als Heimat verstanden werden, fällt eine kritische Beschäftigung mit den dunklen Kapiteln schwer. Dabei könnte gerade auf diesen Ebenen eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf Augenhöhe erfolgen und Geschichte veranschaulichen, (be)greifbar machen. "Da gäbe es also noch viel zu erforschen und aufzuarbeiten, Dokumente, Erinnerungen, Briefe und Fotografien zusammenzutragen und zu sichten. Manchmal fragt man sich, warum das so lange dauert."
Essayistisches Panorama Mitteleuropas: "Topografie der Erinnerung"
Diese Frage stellt sich Martin Pollack in einem Essay seiner eben erschienenen Zusammenstellung "Topografie der Erinnerung". Oft wird er als Vertreter einer Väterliteratur genannt, die die Schuld der Elterngeneration schriftstellerisch zu bewältigen versucht, immerhin war sein Vater Kriegsverbrecher und hochrangiges Mitglied der SS. Dessen Geschichte ging Pollack in seinem 2004 veröffentlichten Buch "Der Tote im Bunker" nach und tatsächlich steht bei Pollacks Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stets auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater im Raum. Man würde Pollacks Schaffen allerdings ausgesprochen tun, reduzierte man es auf den Aspekt der Identitätssuche und Familienhistorie. Die familiären Banden zum Nationalsozialismus und die Morde des Vaters werden vielmehr zum Anlass genommen, Geschichte lokal zu fassen. Anstelle Erinnerungskultur nur an wenige "Orten des Grauens" - etwa Mauthausen, Auschwitz und Nürnberg - auszulagern, wird in der unmittelbaren Umgebung und scheinbar unschuldigen Orten nach den Spuren der Vergangenheit gesucht. Der geografische Fokus liegt beim studierten Slawisten Pollack dabei meist auf Ost- und Mitteleuropa, als Zeitraum bietet das grausame 20. Jahrhundert mehr als genug Beschäftigungsmöglichkeiten.
Das Panorama in "Topografie der Erinnerung" reicht von Kindheitserinnerungen im Mostviertel über Zeitzeugenberichte vom Fall des Eisernen Vorhangs bis zur Auseinandersetzung mit dem "Mythos Galizien". Mit präzisen Schilderungen fasst er in Worte, was seine Recherchen zutage gebracht haben: Von den Kontinuitäten des Nationalsozialismus im heimatlichen Mostviertel ist die Rede, vom getrennten Europa des Kalten Krieges und vom Zusammenleben der Volksgruppen in der Donaumonarchie. Immer wählt Pollack dabei Details und persönliche Anekdoten als Aufhänger, die anstelle einer Geschichtsschreibung mit universalem Anspruch lieber Geschichten einzelner Biografien in den Vordergrund rücken und die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts auf der Ebene veranschaulichen.
Zentrale Aufmerksamkeit wird vor allem jenen Geschichten gewidmet, die kaum erzählt werden, aktive Verdrängung erfahren oder langsam aus der kollektiven Erinnerung hinausgeschwiegen werden. Pollack inszeniert sich allerdings nicht als allwissende Instanz: Indem er sich selbst Versäumnisse attestiert und ob unterbliebener Fragen Vorwürfe macht, positioniert er sich selbst inmitten einer Gesellschaft, die sich mit Erinnerung schwertut. Besonders nachhaltig eindrucksvoll geraten dabei Pollacks persönliche Schilderungen dieses Prozesses namens Erkenntnisgewinn. So schreibt er etwa von einem Gespräch mit einem Jugendlichen mit libanesischen Vorfahren, der ihm von einer großen Hungersnot im Libanon Anfang des 20. Jahrhunderts erzählt, der ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Während diese humanitäre Katastrophe im kollektiven Gedächtnis der libanesischen Bevölkerung ständig präsent sei und teilweise identitätsstiftend wirke, wüsste man in Österreich nicht einmal um die Existenz dieser Hungersnot - geschweige denn ihrer konkreten Auswirkungen. An diesem Umstand demonstriert Pollack die Selektivität der Erinnerung und das Erfordernis, der Unvollständigkeit des eigenen Wissens stets ein Interesse am Unbekannten, nicht Offensichtlichen gegenüberzustellen: "In den meisten Fällen haben wir nur eine vage Ahnung von den Erfahrungen, die viele Menschen in unserem Land geprägt haben und prägen."
Die "Topografie der Erinnerung" orientiert sich daher stark an vermeintlichen Nicht-Orten und Peripherien, die teils geografisch tatsächlich abgeschieden und isoliert liegen, jedenfalls aber in der Erinnerungskultur nur eine marginalisierte Position einnehmen. "Nie wieder Auschwitz, nie wieder Mauthausen! sind längst mehrheitsfähige, gleichzeitig merkwürdig abgehobene Parolen. Nie wieder Hallein, nie wieder St. Pantaleon! dagegen wird oft als Zumutung empfunden", hat der Schriftsteller Ludwig Laher in Anspielung auf die Existenz zweier NS-Lager in Oberösterreich einmal festgehalten. In Pollack hat er mit dieser Forderung einen überzeugten Mitstreiter gefunden, der von den slowakischen Karpaten, dem Südburgenland und galizischen Dörfern schreibt und dabei unbekannte Geschichten zu erzählen weiß. Oft bedient er sich dabei historischer Fotografien, die in Verbindung mit gründlicher Recherche und einer wohldosierten Position Fiktion und Vermutung ein Bild der Lebensumstände geben können. Gleichzeitig aber stehen sie auch für die potenzielle Instrumentalisierung und die Möglichkeit, völlig unterschiedliche Narrative zu bespielen, wie Pollack demonstriert: Ein und dasselbe Foto aus dem Jahr 1939 hätte er bei einem Internethändler erstanden - einmal mit der Bildunterschrift "Toter Erschossener Polnischer Heckenschütze", einmal als "Ermordeter Volksdeutscher". Wie unterschiedlich man vermeintlich objektive und Authentizität suggerierende Dokumente framen kann, gibt letztlich auch Aufschluss über die natürliche Subjektivität des Erzählens und Erinnerns.
Pollacks neuer Band ist ein eindrucksvoller Beweis seiner essayistischen Fähigkeiten, vor allem aber des genauen und geduldigen Blickes, der jenen Geschichten nachspürt, die wenig präsent und mitunter auch zu wenig plakativ sind. Pollack ist nicht an Erzählungen in Schwarz-Weiß interessiert, sondern spricht ausdifferenziert und stets die eigenen Schwächen und Leerstellen in Rechnung stellend. Mit "Topografie der Erinnerung" ist es Pollack und dem Residenz Verlag gelungen, einen spannenden Überblick über die Essay-Veröffentlichungen des 76-Jährigen zu schaffen, der neueste politische Entwicklungen ebenso einbezieht wie jahrzehntelange Prozesse der Erinnerung. Einzig die Tatsache, dass manche Aspekte und Schlussfolgerungen in redundanter Form präsent sind, stört ein wenig - insbesondere deswegen, weil der Band größtenteils eine sehr ansprechende und nachvollziehbare Ordnung und spannende Querverweise aufweist und diese Leistung dadurch ein wenig geschmälert wird. Diesen Umstand kann man aber wohl getrost unter jenen Luxusproblemen verbuchen, welche Best-of-Programme wichtiger Denker nun mal begleiten...
Die Idylle hinterfragen - "Kontaminierte Landschaften"
Bereits vor zwei Jahren ist Pollacks Buch "Kontaminierte Landschaften" in der Reihe "Unruhe bewahren" veröffentlicht worden, dass zwar ebenfalls als Sammlung einzelner Essays betrachtet werden kann, jedoch seine ganze Wirkung erst entfaltet, wenn es als kontingente Schrift verstanden wird. Und auch hier setzen Pollacks Gedankengänge bei einem naiv-natürlichen Unwissen ein, in diesem Fall dem idyllischen Verständnis der Landschaft: "Wenn ich in meiner Bibliothek sitze und übers Land schaue, fällt mein Blick auf kein anderes Haus. So soll Landschaft sein, denke ich dann zufrieden." Dass viele Landschaften abseits romantisierender Projektionen Schattenseiten aufweisen und keineswegs einfach als friedlich-unschuldige Natur begriffen werden können, zeigt Pollack auf den folgenden 117 Seiten. Er hat das - nach Eric Hobsbawm - sogenannte "kurze 20. Jahrhundert" gewählt, um den Raum als geschichtliches Produkt vorzustellen, in den sich die Ereignisse eingeschrieben haben. Im Falle von "Kontaminierte Landschaften" sind diese Ereignisse vor allem Massentötungen und die Vernichtungen der Shoa.
An vielen Orten deutet heute nichts mehr darauf hin, dass hier einst Menschen getötet und hastig verscharrt wurden. Es ist das sprichwörtliche Gras über die Sache gewachsen. Die Täter haben sich abgesetzt, die ortsansässige Bevölkerung hat aus Scham oder Furcht geschwiegen und der Verdrängung des Geschehenen Vorschub geleistet. Die Zeitzeugen sterben langsam und mit ihnen oft auch die letzte Chance, eine Erinnerungskultur zu etablieren, die sich nicht in hohlen Phrasen und abstrakten Darstellungen verläuft. Wer könnte besser über das Grauen des Nationalsozialismus erzählen als jene, die ihn selbst miterlebt haben? Die eine dieser Massenerschießungen in den letzten Kriegstagen wahrgenommen haben und möglicherweise die Namen der Täter und Opfer wüssten oder Auskunft über die Lage des Massengrabes geben könnten?
Durch "Kontaminierte Landschaften" zieht sich nämlich der zentrale Wunsch, den namenlosen Opfern und ihrer unwürdigen Verscharrung ein beinahe archäologisch geartetes Interesse entgegenzusetzen. Pollacks Ansatz, die Verbrechen zu kartografieren, vergessene Massengräber aufzuspüren und sichtbar zu machen, hat viel mit seinem Grundverständnis von Erinnerungskultur zu tun: Gedenken und Aufarbeitung dürften nicht in wenige Orte des Grauens ausgelagert werden, sondern im lokalen Kontext gedacht werden. Schließlich hätte sich der Nationalsozialismus ja nicht nur hinter dem Stacheldraht der Konzentrationslager und in den Folterkellern der Gestapo abgespielt, sondern auch in der unmittelbaren Nachbarschaft. Täter, Mitwisser und Wegschauer ließen sich überall finden, ebenso hat sich die Shoah nicht nur in den Vernichtungslagern ereignet, sondern stets in den heimatlichen Strukturen begonnen. Um die Geschehnisse zu begreifen und Geschichte aufzuarbeiten ist es somit unabdingbar, auch dort zu forschen, wo es besonders wehtut: Dort, wo man zuhause ist.
Pollacks Band gerät dadurch zu einem sehr starken Dokument der Erinnerung geworden, das vor allem deshalb so erschüttert, weil es hinter vermeintlich idyllische Fassaden schaut und aufzeigt, welche Kontinuitäten die Verbrechen des 20. Jahrhunderts bis heute haben. Nicht nur die NS-Vergangenheit wird dabei adressiert, sondern auch der Erste Weltkrieg oder die Massenerschießungen, die Tito-Partisanen an angeblichen Nazi-Kollaborateuren verübt haben. Mit sprachlicher Präzision und Empathie, gleichzeitig enormem Detailwissen und hilfreichen Kontextualisierungen gerät "Kontaminierte Landschaften" solcherart zu einem unbequemen Appell an das zivilgesellschaftliche Gewissen.
Unruhe bewahren
Pollacks schriftstellerisches Werk zeichnet neben seiner historischen Gründlichkeit vor allem auch ein Stil aus, dem zwar auch der Pathos eines Mahners nicht fremd ist, der aber vor allem die schwierige Balance zwischen Einfühlung und Distanz hält und die historischen Akteure beim Namen nennt. Ebenso wie die namenlosen Opfer aus ihrer Anonymität geholt werden, ist es Pollack ein Anliegen, die Geschichten der Täter zu erzählen - angefangen beim eigenen Vater. Literarisch und historisch arbeitend zugleich veranschaulicht Pollack die Geschichte und stellt dem gemütlichen Vergessen und Verdrängen ein Bewusstsein für die engen Verschränkungen von einst und jetzt und der Geschichtlichkeit des Raumes entgegen - ein kühler Kopf, der hier die notwendige Unruhe bewahrt!
Topografie der Erinnerung
von Martin Pollack
erschienen im Residenzverlag
gebundene Ausgabe, 176 Seiten, 21,90€ (A)
ISBN: 9783701716487
Kontaminierte Landschaften
von Martin Pollack
erschienen im Residenzverlag
Klappenbroschur, 120 Seiten, 17,90€ (A)
ISBN: 9783701716210