Generation Lost

Ralf Rothmanns "Im Frühling sterben" folgt zwei jungen Freunden, die in den letzten Kriegsmonaten zur SS eingezogen werden und zeichnet ein Bild von Traumatisierung, Sprachlosigkeit und Schuld. Es ist der Roman einer verlorenen Generation, der der Krieg ihre Unschuld und ihr Weltverständnis nimmt und die das Leben alleine mit ihren Erfahrungen lässt.

"Es kann übrigens sein, dass ihr das Zeichen mal loswerden müsst", sagte er. "Geschichte ist launisch. In dem Fall rate ich euch, eine Zigarette darauf auszudrücken."
Geschichte ist nicht nur launisch, sie hinterlässt auch Spuren. In einzelnen Biografien, in der räumlichen Ordnung, im kollektiven Gedächtnis. Auch auf der nackten Haut, als Narbe einer Tätowierung - dem Blutgruppen-Tatoo der SS.
Es ist Februar 1945 und zwei knapp 18-jährige Melkerjungen werden in Norddeutschland zwangsrekrutiert. Walter und Fiete sind lebensfrohe junge Menschen und sie stehen stellvertretend für hunderttausende Männer, die in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges im Rahmen des "Volkssturms" noch an die Front geschickt wurden, zumeist bereits entweder über 50 oder gerade mal 16. Blutjung und naiv. Der Glaube an die Unentbehrlichkeit im Nachschub, die selbstsichere Meinung, in der HJ ein schlechter Schütze gewesen zu sein, rette vor dem Einzugsbefehl, machen das deutlich. Die Front ist weit weg, der Krieg - wie man aus den "Feindsendern" weiß - fast vorbei und sowieso sind die Probleme mit dem eigenen Mädchen dann eben naheliegender als der Waffengang.
Und dann geht es doch ganz schnell. Stunden nachdem man noch darüber grübelte, ob man überhaupt noch eingesetzt werde, macht sich der Trupp auch schon auf den Weg von Norddeutschland nach Ungarn, wo die sowjetischen Streitkräfte und Titos Partisanen der Wehrmacht auf dem Rückzug gegenüberstehen. Walter, der in der im Schnelldurchlauf erfolgten Grundausbildung den Führerschein gemacht hat, wird als Fahrer der Versorgungseinheit zugeteilt, der aufmüpfige Fiete kommt an die Front. "Walter hob eine Hand, was der aber nicht erwiderte, oder nur mit einem stillen Blick, einem ernsten Lächeln."

Ralf Rothmann erzählt seinen Roman primär aus Walters Perspektive und folgt demnach vorderhandig dessen Versorgungsfahrten, den Erlebnissen mit dem sowjetischen Fliegerbeschuss und der Suche nach seinem in die Gegend von Székesfehérvár strafversetzten Vater. Immer wieder aber taucht auch Fiete in der Erzählung auf und sowieso ist er im narrativen Subtext stets präsent. Er ist es, der den Verletzten im Roman ein Gesicht gibt und er ist auch die subversive Gegenposition zu Walter, der die Monate an der Front einfach durchtauchen will, gewissenhaft seinen Dienst versieht und in Gedanken oft ganz woanders ist als beim Sterben. Mehrmals äußert Fiete Fluchtabsichten und stellt die Kriegsführung in Frage, vor allem aber weiß er im Gegensatz zu Walter um das Grauen an der Front und den schlechten Zustand der Truppe. Maschinengewehrschützen auf Krücken und einarmige Panzerfahrer sind nicht selten, noch einmal würde er nicht mit einem kleinen Splitter davonkommen, da ist er sich sicher. Als dann ein Transport mit gerade eben gehfähigen Invaliden zusammengestellt wird, der in den Kampf geschickt werden soll, desertiert Fiete. Er kommt nicht weit.

Kontaminierte Biografien

Der Krieg (und in mancher Hinsicht auch Rothmann) hat einen schonungslosen Hang zum Drama und so stehen sich Walter und Fiete - einer griechischen Tragödie gleich - Auge in Auge gegenüber. Der eine an einen Pfahl gefesselt, der andere mit angelegtem Karabiner. Beide verurteilt. Der eine zum Tode, der andere zur Exekution seines besten Freundes.
Und gleichzeitig auch zu einem Leben in steter Unruhe. Die letzten 50 Seiten des Buches folgen den ersten Monaten der Nachkriegszeit, sie folgen Walter auf dem Heimweg. Von einer Heimkehr zu seiner Familie nach Essen kann man fast nicht sprechen, Mutter und Sohn sehen sich an und wissen instinktiv beide, dass sich die Wege schon längst getrennt haben. Auch die Wiedervereinigung mit der Freundin in Kiel kann nicht darüberhinwegtäuschen, dass Walter für sein Leben gezeichnet ist. "Die ersten Wochen eines Friedens, in dem einer wie Walter nie mehr heimisch wird", wie der Klappentext formuliert, machen deutlich, dass "Im Frühling sterben" sich der Nachhaltigkeit traumatischer Ereignisse annimmt.
Die Dimensionen dieser lebenslangen Last lässt Rothmann erahnen, indem er an Anfang und Ende des Buches seinen Vater ins Spiel bringt und dem Roman seinen autobiografischen Rahmen verleiht. Das wenige, das jener zeit seines Lebens von der Zeit im Krieg erzählt, spinnt Rothmann weiter und kombiniert es mit Fragmenten anderer Biografien. Seinen Vater skizziert er als verschlossenen Malocher, geflüchtet in die Arbeit unter Tage. Nicht unbedingt gebrochen, durchaus aufrecht, aber geprägt von Unverständnis der Welt und von der Sprachlosigkeit eines, der zuviel gesehen hat, wofür ihm die Worte fehlen. "Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt."

Vererben sich Traumata, greifen sie auf andere Biografien über?  "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden", lautet eines der zwei Zitate aus dem Alten Testament, derer sich Rothmann bedient und behauptet in einem Interview, seit früher Kindheit hätte er Alpträume, in denen er erschossen werde. Die Überzeugung der traumatischen Vererbung ist das spannendste Motiv in diesem Roman und besondere Relevanz erhält es freilich im Kontext des Schweigens. Unverarbeitete Erfahrungen, die Flucht vor der Stellungnahme, die Angst vor dem Anvertrauen, sie fördern die Manifestation des Traumas. Totschweigen ist in dieser Hinsicht ein höchst doppeldeutiges Wort.
Das zweite zentrale Motiv ist die Schuldfähigkeit: Inwiefern waren sich minderjährige SS-Angehörige der Dimension ihrer Taten bewusst? Vor allem aber: Wie konnten sie reflexiv damit umgehen? "Er hat die Welt nicht verstanden: Als Zwangsrekrutierter der Waffen-SS fühlte er sich als Opfer, wurde aber nach dem Krieg als Täter betrachtet. Wie soll ein 18-Jähriger, der nie gelernt hat nachzudenken, damit umgehen?", fragte Rothmann jüngst in einem Interview und meinte konkret seinen Vater, in Wirklichkeit aber eine ganze Generation.
Während ein Großteil der Literaturkritik Rothmann für seinen realistischen Stil und seine nüchterne Poesie feiert, finden sich auch zunehmend kritische Stimmen. Gerade dieser "durch keine Zweifel erschütterte Darstellungsrealismus" verärgert Roman Bucheli von der Neuen Zürcher Zeitung und lässt ihn einen Schritt weitergehen: "Wieso – zuletzt – stört sich niemand daran, dass die Unschuld vom Lande in die Uniform der Waffen-SS gesteckt wird und unser Mitgefühl einfordert?"
In der Tat lebt "Im Frühling sterben" von einem Glauben an die Realität, der bisweilen geradezu esoterisch daherkommt. Und auch wenn Bucheli die flache Figuration des Walter kritisiert, diese Parallelführung von naiver Unschuld und mörderischer Schuld, ohne an einer Selbstreflektion interessiert zu sein, kann man ihm Recht geben. Man muss dieser Erzählweise allerdings nicht zwangsläufig unterstellen, sie heuchle Verständnis für Verbrechen oder heische um Mitleid für den seiner Jugend beraubten Melkerburschen. Denn der Eindimensionalität eines Walter steht in Rothmanns Roman immer noch ein anderer Entwurf gegenüber, der des besten Freundes. Fiete zeigt eine andere Möglichkeit auf, die der kritischen Subversion, schließlich auch der Desertion.

Wie ein Kainsmal tragen Walter und Rothmanns Vater ihre Kriegserlebnisse ein Leben lang mit sich und teilen dieses Schicksal mit Hunderttausenden, Millionen anderer Soldaten. Rothmann thematisiert in "Im Frühling sterben" zentrale Themen wie Traumatisierung, Schuldfähigkeit und Sprachlosigkeit, ohne auf die Frage, wie damit umzugehen wäre, näher einzugehen. Solcherart kann der Roman zwar keinen Beitrag zur Aufarbeitung und zum Diskurs über den gesellschaftlichen Umgang leisten, er zeichnet aber ein erschütterndes Bild von einer verlorenen Generation, die vor ihrer kontaminierten Biografie kapituliert hat. Nicht jede Erfahrung macht einen stärker. Und längst nicht alle Erfahrungen können wir uns überhaupt vorstellen.

Im Frühling sterben
von Ralf Rothmann
erschienen bei Suhrkamp
gebunden, 234 Seiten, 20,60€ (A)
978-3-518-42475-9

Julius Schlögl