Wir waren da

Der eben erst beim Klagenfurter Bachmann-Preis angetretene Schriftsteller Roman Marchel lässt in seinem Erzählband "Wir waren da" Kindheitserinnerungen in jeder Hinsicht neu erwachen und steht für eine erzählerische Einheit aus Fantasie und Wirklichkeit ohne nostalgische Sentimentalitäten.

Manchmal stehen Buchtitel für noch viel mehr, als für die ihnen folgenden literarischen Seiten. Für ein Lebensgefühl etwa, eine Gattung oder eine Provokation. Wenn man will, auch gern für ein anderes Buch. Ein Titel ist immerhin ansatzweise ein willkürliches Konzept, zweckentfremdende Verwendungen daher genauso im Risiko inbegriffen wie verkürzende Rezeptionen und Missinterpretationen. Da kann auch die Binsenweisheit "don't judge a book by its cover" wenig ausrichten. Apropos Zweckentfremdung: "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär" heißt die autobiografische Erzählung einer vom autoritär-katholischen Umfeld und der tiefkonservativen Kärntner Einschicht geprägten Kindheit - jener von Josef Winkler. Was der Titel über das Buch verrät, ist hier nicht die Frage. Es sei nur festgehalten, dass er sich ganz wunderbar auf einen Erzählband des im Waldviertel lebenden Schriftstellers Roman Marchel umlegen lässt. "Wir waren da" klingt wie eine nüchterne, beschließende Feststellung und ist dabei eigentlich eine fantastische Manifestation des Erfindens und Erinnerns. Ein Potpourri aus Merkwürdigkeiten, Momenten und Menschenbildern. Oder unter dem Gesichtspunkt einer fremden Betitelung: Die Realität so sagen, als ob sie viel mehr wär.

Unverwundbarkeit und Blubberblasen

Von Raumschiffabenteuern in der Speisekammer und ganz anderen Abstürzen erzählt Marchel, Kindheitserinnerungen stellt er Alterserfahrungen gegenüber, kleine Beobachtungen erfahren die ungeteilte Aufmerksamkeit, die ihnen gebürt. Zumeist aus Ich-Perspektive betrachtet, leben die einzelnen Geschichten von der unprätentiösen, niemals anbiedernden und indes verzaubernden Metaphorik des Kind-Seins und Kind-Bleibens. Alles ist möglich, das Leben scheint unverwundbar und doch kann ein einziger Satz eine ganze Welt zerstören. Eine Welt, in der es mehr als eine Wirklichkeit gibt, in der der angeblich dichotomische Gegensatz zwischen Realität und Fantasie in der gelebten Einheit aus erfinden, erinnern und erzählen seine Auflösung findet. Ein Hydrant mit roten Verschlusskappen wird zum verliebten Außerirdischen. Space invaders against Illusionslosigkeit.

"So viel Zeit ist vergangen und doch mitunter bedeutungslos. Als wären die Wege, auf denen das Leben verläuft, nur an den Kreuzungspunkten von Interesse, an den Marken des Innehaltens. Die Enkeltochter ist hopsenden Schrittes vorgelaufen und wartet an der Kreuzung, an irgendeinem Punkt auf die Großmutter, und dort, wo die alte Frau das junge Mädchen, das sie einmal war, einholt, wo die Erinnerung sich an der Hand nehmen lässt, sind sie kurz eins, schnaufen kurz durch, bevor es weitergeht."

Die Erinnerung, sie lässt sich oft an der Hand nehmen auf den 180 Seiten des Bandes. Etwa von Jan und Boris, dessen Vater vor einem Jahr verstorben ist - zwei Freunde, die aus der großen Stadt in das Dorf zurückkehren, um aus einem kurz vor dem Abriss stehenden Schuppen ein Filmplakat zu "Der weiße Hai" und damit auch Erinnerungen an sharkophile, spannende Kinderzeiten zu retten. Oder von Clara, der Enkeltochter eines Provinz-Gigolos von durchschnittlicher Charakterlosigkeit, deren Auftauchen dem Mann auf seine alten Tage erstmals so etwas wie ehrliche Liebe, Schutzinstinkte und Eingeständnisse der eigenen Fehlbarkeit entlockt. Auf einem Hausdach von zwei Jugendlichen, die ihren nahenden Abschied mittels der Konservierung schöner Zeiten in dem nicht ganz kitschfreien Einfall der "Blubberblasen" verdrängen. In einer der wunderlichsten Geschichten dann eben auch von der alten Frau, welche die Erinnerung an die Mädchenjahre und den Verlust einer Art Unschuld in Gestalt eines Konglomerats aus Rückblenden, Traumhaftem und Bewusstem einholt. Erinnerung in Form von Zwischenwesen, Baumhäusern und einem Frauenschuh.

Viel passiert in "Wir waren da". Selten sind es Allgemeinplätze, obwohl die Grenze zwischen Banalem und Einschneidendem fließend verläuft. Schnell wird klar, dass man es nicht mit einem Buch zu tun hat, das unbefleckte Kindheitserinnerungen und heile Welten pathosgeladen heraufbeschwört, sondern Biografien ernst nimmt. Von Belang sind vor allem durch die Fantasie von ihrer Alltäglichkeit befreite Geschehnisse und Momente, die vielleicht nicht als konventionelle "Kreuzungspunkte" daherkommen, aber ein Leben lang begleiten. Man kann in solchen Erzählungen schnell in einen esoterischen, allzu sehr dem mysteriösen nacheifernden Erzählduktus verfallen, Roman Marchel tut das nicht (wenngleich die Titel der einzelnen Kapitel - um wieder das Thema "Überschrift" zu bemühen - im Vergleich zu den Erzählungen etwas uninspiriert wirken). Die schwierige Aufgabe, sprachmächtige Rückblicke auf Kindheitsmomente zu werfen und sich dabei weder in Sentimentalitätsmomenten zu verlieren, noch eine einzig auf die Jugend beschränkte Poetik des Zaubers zu entwerfen, wird souverän gemeistert. In der Art, wie Marchels Erzählfiguren von ihren Erlebnissen und den weiteren Wegen des Lebens sprechen, liegt nichts Relativierendes. Das Leben ist absolut und schwer zu erzählen, das Besondere erklären dagegen fast unmöglich. "Der Poststempel verriet, dass das Paket beinahe sieben Monate unterwegs gewesen war. Die meiste Zeit ist es wohl irgendwo herumgelegen. Die Tatsache aber, dass es mich schließlich doch erreicht hat, dass es nicht retourniert worden war, zeigt, dass diese zwei alten Frauen, die Zeit und ich, recht haben, wenn sie nichts auf ihr Vergehen geben und sich lieber an die Momente halten, die wie Inseln aus der Gleichförmigkeit auftauchen. Wale und Krokodile."
Mitunter auch Haifische...
 


 

Wir waren da
von Roman Marchel
erschienen im Residenz Verlag
Hardcover, 180 Seiten, 19,90€ (A)
ISBN: 9783701716111

Julius Schlögl