Michel Jean schildert in seinem Buch "Maikan: Der Wind spricht noch davon" einen der dunkelsten Abschnitte der Geschichte Kanadas. Das macht er mit Klarheit und Feinfühligkeit und verleiht dem Thema um die Verbrechen an den indigenen Menschen dort eine ungblaubliche Dringlichkeit. Ein Lese-Highlight!
Maikan bedeutet in der Sprache der Innu Wolf/Wölfe und es ist der Ausdruck, den die Kinder und Jugendlichen für die Nonnen und Priester im Internat fanden, in das man sie auf behördliche Anweisung steckte. Die Regierung und der Klerus möchten die Kinder der Innus assimilieren und „den Indianer im Kind töten“. Den Eltern wird dabei vorgemacht, dass sie sich nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern könnten. Nicht nur sprachtechnisch, sondern auch in Sachen Ernährung und Kleidung. Wenn sich die Erziehungsberechtigten doch einmal zur Wehr setzten, gab es für diese und die Schützlinge oder gar die ganze Familie Probleme. Autor Michel Jean, zitiert in seinem Nachwort Innu Sänger Forent Vallant, der meint, dass diese Internate, ebenso „das Kind getötet haben“.
Michel Jean weiß Bescheid, immerhin zählt der kanadische Journalist und Moderator zu den wichtigsten Innu Stimmen und veröffentlichte seine bedeutenden Romane "Kukum" und und "Atuk: sie und wir". Für ersteren erhielt er den Prix littéraire France-Québec (2020) und Prix Nature Nomad (2021).
Der Schriftsteller schreibt in seiner Geschichte um das katholische Internat Fort George: „Sie behandeln uns wie Wilde, aber sie sind die Tiere.“Dort bringt man neben vielen anderen Kindern die Jugendlichen, Marie, Virginie und Charles gegen ihren Willen hin. Im Internat erleben sie furchtbare Misshandlungen. Heimweh und Hunger gehören noch zu den „kleineren“ Problemen.
Als billige Arbeitskräfte werden die jungen Menschen ebenfalls ausgenutzt. Die medizinische Versorgung lässt, anders als versprochen, zu wünschen übrig. Am schlimmsten sind allerdings die physische, psychische und sexuelle Gewalt, der die Schüler*innen ausgesetzt sind. Für einige Mitschüler*innen ist das zu viel und der Rest der Kinder muss Dinge mitansehen, die nicht für Kinderaugen gemacht sind. Es ist ihnen auch verboten sich in ihrer Sprache Innu-aimun zu unterhalten. Am besten sollen sie sich gar nicht an zu Hause erinnern.
Die Story spielt auf zwei Ebenen, denn im Jahr 2013 macht sich Anwältin Audrey Duval auf die Suche nach Überlebenden Internatsschülern. Ihnen steht eine Entschädigung zu und sie möchte Gerechtigkeit. Virginie und Charles scheinen ganz von der Bildfläche verschwunden zu sein und von Marie gibt es nur einen kleinen Anhaltspunkt. Die Juristin versucht hinter den Grund des Verschwindens zu kommen und versucht zu verstehen, warum manche Menschen einfach nur vergessen wollen und mit welchen Mitteln.
"Maikan: Der Wind spricht noch davon" ist kein Buch, das man schnell einmal verdaut, sondern eine Geschichte, die lange nachwirkt. Die Zahl an Verbrechen an indigenen Menschen in Internaten in Kanada dürfen nicht vergessen werden, vor allem da es bis heute nicht einmal eine genaue Anzahl der Institute gibt! Die letzte dieser Einrichtungen schloss die Regierung überhaupt erst 1996. Der Schriftsteller legt im Nachwort genauer die erschreckenden Fakten dar.
Michel Jean erzählt die Story einfühlsam und mit so viel Gefühl, dass man manchmal innehält, damit die Tränen nicht kommen. Sowohl die Naturbilder Kanadas, als auch den Schrecken des Lebens und die Lichtmomente auf Fort George, beschreibt der Autor gekonnt. Das Werk ist herzzerreißend, ergreifend, trotzdem ein wenig hoffnungsvoll, und gerade wieder mehr als aktuell! (siehe Funde von Massengräbern, Papstbesuch und Entschuldigung, Tod der Queen etc.) Das Ende des Buches ist rührend ohne viel Kitsch und lässt einen doch nicht vergessen. Und das sollte diese Geschichte auch nicht! Ein unerlässlicher Roman!
Maikan: Der Wind spricht noch davon
von Michel Jean
erschienen bei Wieser Verlag
gebundene Ausgabe, Lesebändchen, 220 Seiten, 21,00€