Türen mit Seitenteilen

Ich will Ihnen heute von meiner Heimat erzählen. Sie kennen Österreich als ein Land mit hohen Bergen, überteuerten Kaffeehäusern und kuriosen Bräuchen. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich fürchte, ich bin ein Stück weit neben diesen Vorstellungen aufgewachsen, denn dort, wo ich meine Kindheit verbrachte, war damals ein Zaun. Genau genommen war dort nicht nur einer, sondern gleich mehrere Zäune, außerdem Mauern mit Stacheldraht, Wachtürme und sogar Tretminen. Der Eiserne Vorhang verlief nur einige hundert Meter vom Haus meiner Großmutter entfernt, und wenn wir am Gründonnerstag Palmkätzchen am Ufer schnitten, fuhren jenseits des Grenzflusses die tschechoslowakischen Wachsoldaten in ihren Jeeps auf und ab.

Als letzten Sommer die Flüchtlingsströme schließlich auch Österreichs Grenzen erreichten, hieß es, Österreich mache die Herzen weit und die Grenzbalken hoch. Doch alles hat eine Grenze, sogar die österreichische Gastfreundschaft, und in Zeiten, in denen nicht nur die Gürtel, sondern auch die Herzen enger geschnürt werden, begannen nahe des Hauses meiner Großmutter Baumaßnahmen, die zu vielen Diskussionen führten. Sie wissen, was ein Zaun ist? Ich darf Ihnen gratulieren, denn diese scheinbar so triviale Frage ist kniffliger als es den Anschein hat. Österreichs Sprach-Experten arbeiten seit Monaten an der endgültigen begrifflichen Klärung. Fest steht bislang lediglich, dass es in Österreich gar keine Zäune gibt, wenn Sie also einen gesehen haben, vergessen Sie das. Es gibt in Österreich keine Zäune, schon gar nicht an den Außengrenzen.

Anfang des Jahres stand ein Journalist mit der Innenministerin an einer dieser Baumaßnahmen, die man in der Nähe des großmütterlichen Hauses in den Schlamm gesteckt hatte. Auch ein Profi-Reporter kann irren, und ich möchte ihm zugutehalten, dass dieses Ding einem Zaun tatsächlich täuschend ähnlich sah. Es handle sich jedoch mit Sicherheit um keinen Zaun, klärte die Innenministerin auf, sondern um eine „besondere bauliche Maßnahme“. Der Verteidigungsminister wiederum sprach von „notwendigen Baumaßnahmen an der Grenze“, ob diese nun besonders oder ganz gewöhnlich seien, darüber verlor er kein Wort, lediglich die Grenze ließ sich nicht leugnen. Denn wenn sich mitunter auch Bedeutungen in Worthülsen verstecken lassen, so doch sicher keine ganzen LKWs vor den Augen meiner Großmutter, zumal wenn aus diesen LKWs Rollen mit frischem Stacheldraht abgewickelt werden. Auch der Vizekanzler wollte den Zaun vor lauter Maschendraht nicht erkennen. Das Foto, das ihm der Journalist unter die Nase hielt, zeige „technische Sicherungen“. Und schließlich vermeldete auch der Kanzler – nicht nur in Fragen der Semantik für seine atemberaubende Expertise bekannt – es handle sich bei den gezeigten Objekten um „Türen mit Seitenteilen“.

Im Osten Österreichs neigt man übrigens dazu, Wörter durch das Anhängen der Endung „erl“ zu verniedlichen. Aus einem Krug wird dann leicht ein „Krügerl“, aus einer Zigarette ein „Zigaretterl“ und aus einem Politiker ein Würstl. 25 Jahre nachdem der Stacheldraht zerschnitten wurde, stehen jetzt „Türln mit Seitenteilen“ am ehemaligen Eisernen Vorhang – keine Ahnung, worüber sich ganz Europa da so aufregt.

Constantin Göttfert

Constantin Göttfert wurde 1979 in Wien geboren. Für seine Arbeit erhielt er u.a. das Heinrich-Heine Stipendium der Stadt Lüneburg sowie das Projektstipendium des Bundeskanzleramtes Wien. Sein Roman „Steiners Geschichte“ (C.H. Beck 2014) war im August 2014 auf der ORF Bestenliste.  
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