Paul fährt nirgends hin

Ein Gebäude steht dort, wo lange Zeit keines stand. Das hat der Fortschritt gemacht.

Ein Gebäude steht dort, wo lange Zeit keines stand. Das hat der Fortschritt gemacht. Früher war hier ein alter Bahnhof, aber hinter diesen Glasfassaden, die die Welt bedeuten, ist jetzt nicht nur der Bahnhof, sondern auch die Bahnhofspromenaden, für die sich ein Architekt mächtig ins Zeug gelegt hat. Er hat das für die Menschen getan, steht auf einem Schild. Paul ist ein Mensch. Der Architekt hat das auch für Paul getan. 
Der Bahnhof sah früher anders aus. Früher kannte hier Paul eine Plattform, die sonst nur wenige kannten, und auf dieser Plattform stand ein alter Güterzug, in dem alle Türen offenstanden. Alles ändert sich. Der Bahnhof sieht dem Bahnhof von früher gar nicht mehr ähnlich. Da fehlt etwas, denkt Paul, und hält jetzt die Augen offen. Paul promeniert.
Paul benimmt sich daneben. Er bemerkt es zu spät. Es ist nicht so, dass Paul sich schlecht benehmen will. Es scheint aber, als würde er sich schlecht benehmen auch ohne es zu wollen. Sein Wollen oder Nichtwollen hat damit nichts zu tun. Paul benimmt sich immer schlecht. Den Kaschmirschal in der Auslage kann er sich nicht leisten. Er sucht den Waggon, deren Türen immer offenstehen, aber er findet nur ein Schild mit einem Pfeil. Und dieser Pfeil zeigt ihm jetzt, wo es lang geht. Es geht zu den Gleisen. Paul kennt viele Bahnhöfe aus seiner Kindheit in einem fernen Land. Wenn Paul sich an seine Kindheit erinnert, erinnert er sich an viel Schlechtes, von dem er nachts aus dem Schlaf gerissen wird. Aber er erinnert sich auch an viele Bahnhöfe. Paul reist auch heute noch viel, obwohl er es nicht will. Um das Wollen geht es bei Paul nicht. Er fährt von einem Land ins andere. Wenn er ein Land betreten hat, muss er es manchmal gleich wieder verlassen. Manchmal hat man schon auf ihn gewartet und lässt ihn erst gar nicht in das Land hinein. Er träumt davon, eines Tages nicht mehr zu reisen. Was für andere ein Vergnügen ist, macht Paul gar keinen Spaß. 
Paul stellt sich auf die Rolltreppe. Es ist schön, dass er bewegt wird, ohne sich selbst zu bewegen. Er mag es, wie sich die Welt an ihm vorbei- und hinunterzieht, und Paul sich gleichzeitig in die Welt hinein- und hinaufzieht. 
Aber sobald Paul oben angekommen ist, ist die Freude zu Ende. Auch hier gibt es keine Gleise. Ein Bahnhof ist das gar nicht. Der Pfeil, der ihm gezeigt hat, wo es lang geht, hat gelogen. Auf einem Schild steht, dass man ihm gerne helfen will. Fragen Sie uns! Dort stehen Menschen hinter einer Theke aus Glas und heben jetzt den Kopf. Sie sehen Paul an, aber sie sehen nicht so aus, als wollten sie Paul helfen. 
Er legt seine Hände ganz einfach auf eine Schaufensterscheibe. In seiner Kindheit waren das die Hände, die einen Fahrradreifen aufpumpen konnten. In seiner Kindheit waren das auch jene Hände, die Kartoffeln aus der Erde gestochen haben. Und später haben diese Hände Dinge gemacht, die Paul gar nicht mehr wissen will. Jetzt liegen sie einfach auf der Scheibe und tun gar nichts mehr. Sie erinnern Paul an etwas, das so schwer ist, dass Paul zusammensackt und vor dem Schaufenster zu Boden sinkt. Die Erinnerung hat ihn niedergeschlagen. Es ist nicht das erste Mal.
Paul fährt nirgends hin. Die zwei Männer stehen hinter der Theke und sehen Paul immer noch an, und einer hebt jetzt den Telefonhörer auf. Früher war das ein Bahnhof, denkt Paul, mit einem Waggon, dessen Türen immer offenstanden. 
Eine Tür geht auf. Es sind keine Weihnachtsmänner, die ihn im Namen der Sicherheit an den Oberarmen packen.

Constantin Göttfert

Constantin Göttfert wurde 1979 in Wien geboren. Für seine Arbeit erhielt er u.a. das Heinrich-Heine Stipendium der Stadt Lüneburg sowie das Projektstipendium des Bundeskanzleramtes Wien. Sein Roman „Steiners Geschichte“ (C.H. Beck 2014) war im August 2014 auf der ORF Bestenliste.  
http://www.constantin-goettfert.at