Thelma

Erstmals begibt sich der norwegische Regisseur Joachim Trier in fantastische Gewässer. Die einfühlsame und reflektierte Arbeit mit Genrekonventionen offenbart Thelmas mysteriöse Geschichte.

"Woher kommt das Leben, wenn es kein Leben gibt?" – Mit dieser Frage wird Thelma (Eili Harboe) von ihrem Vater Trond (Henrik Rafaelsen) konfrontiert, als sie sich über religiöse Überzeugungen lustig macht. Das Studentenleben in Oslo gibt der streng christlich erzogenen, jungen Frau eine alternative Perspektive auf die Dinge und führt sie in einen Konflikt mit sich selbst. Die Entdeckung ihrer Gefühle für ihre Mitstudentin Anja (Kaya Wilkins) intensiviert diese innere Zerrissenheit nur und mündet schließlich in mysteriösen Krampfanfällen. Um diesen Kampf mit der eigenen Identität und dessen Auswirkungen dreht sich Thelma, Joachim Triers erster Versuch im Genrekino.

Dieser mystische Coming-of-Age-Thriller behandelt das Geflecht aus Sexualität, Religion und Familie nicht mit dem Hauptaugenmerk, dem Publikum moralische Werte zu vermitteln. Vielmehr wird mit dem Zusammenwirken dieser Elemente eine Geschichte emergent, welche von Eili Harboe authentisch durchlebt wird. Ein Unterwasser-Training, Tension-&-Trauma-Releasing-Exercises zur Hervorrufung der Anfälle und die Arbeit mit Schlangen nahm sie auf sich, um die meisten Einlagen selbst spielen zu können. Die Rollen für Henrik Rafaelsen und Ellen Dorrit Petersen als Thelmas Eltern sowie Kaya Wilkins’ Debutrolle als Anja dienen nicht bloß der Kausalität der Erzählung, sondern stellen interessante Charaktere dar, welche überzeugend verkörpert werden.

Trier beweist mit Thelma nicht nur erneut, dass er sein Handwerk beherrscht. Die totalen Einstellungen des in CinemaScope gedrehten Films vermitteln bei aller Weite stets das Gefühl der Isolation. Während die Landschaftsaufnahmen durch die portraitierte Menschenleere ein Gefühl der Einsamkeit ausstrahlen, wird die Stadt zum Ort, an dem Thelma in der Anonymität der Masse untergeht. Die symbolisch aufgeladenen Bilder und die meist bewegte Kamera, die Montage, die jeder Einstellung genug Zeit gibt, um ihre Wirkung zu entfalten sowie die dominante Tonebene schaffen eine Atmosphäre, welche das Innenleben der Protagonistin widerspiegelt. Thelmas Anfälle äußern sich visuell durch surrealistische Traumzustände, welche in die Realität ihrer Umwelt eindringen zu scheinen. Mit der dadurch ausgelösten Selbstentfremdung wechselt die Erzählung zwischen der  ungewissen Gegenwart und einer nicht geklärten Vergangenheit, die düstere Geheimnisse in sich birgt.

Einizig die Entwicklung des Narrativs im Verhältnis zu seiner Ästhetik scheint problematisch zu sein. In dieser Hinsicht stehen sich die Arbeit mit dem Genre und der atmende, künstlerisch anspruchsvolle Stil nämlich im Weg. Dennoch stellt Thelma einen vor allem inszenatorisch gelungenen Film dar, von welchem man einige Momente noch lange nach dem Verlassen des Kinos mit sich tragen wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollte Joachim Triers weiteres Schaffen im Auge behalten werden.

Thelma
Regie: Joachim Trier
Filmstart: 10.05.2018
im Verleih von Thimfilm
 

Peter Freydl