Starke Frauen

Mit "Erbgut" legt Autorin Bettina Scheiflinger ihr Erstlingswerk vor und trifft mit ihrer feinfühligen und empathischen Familiengeschichte und der Bearbeitung der Problematik Erbgut voll ins Schwarze. Der sprachlich exzellente Schreibstil, bestimmt, aber nicht aufdringlich, macht das Buch zu einem Genuss.

Bettina Scheiflinger, die 1984 in der Schweiz geboren wurde,  bietet mit "Erbgut" einen Debütroman, der so viel mehr ist, als nur eine schlichte Familiengeschichte. Nicht nur sprachlich außergewöhnlich schön, erzählt sie in kleinen Kapiteln, fast Fragmenten von zwei Familien, die zu einer werden und schlussendlich bei einer Tochter enden. Die Leser*innenschaft erhält immer ein Stückchen Information mehr, wie ein Stück DNA, oder ein Puzzle, das sich zum Schluss zusammenfügt. Bei diesem Buch kann sich das bildlich fast wie einen dicken Zapfen beim Zapfenrechnen vorstellen. Dominiert wird die Story von Frauen, wenn man so will, starke Frauen, und die braucht es. Jede von ihnen hat ihre eigenen Talente und Vorzüge, kämpft immer wieder mit ihren Schwächen und schwierigen Situationen und versucht das Beste daraus zu machen. Das Bindeglied zwischen allen handelnden weiblichen Protagonistinnen ist allerdings Arno. Dieser ist, Sohn, Vater, Bruder und Ehemann und die Frauen erzählen nicht nur über sich, sondern über diesen wichtigen Charakter mit. Nebenbei, eher am Rand gibt es noch Franz, Arnos Vater, der in der Geschichte, schon eine nicht unbedeutende Rolle hat, und Emil, den Mann von Sofia, seiner Schwiegermutter. Emil kommt zwar nicht so viel im Werk vor, dennoch tragen Franz und er viel dazu bei, wenn es um die Themen Nationalität, kulturelles Erbe, Stolz, Werte und Zugehörigkeit geht. Johanna und Sofia, ihre Ehefrauen, sind der Gegenpol in der Geschichte. Bei ihren Kindern vermischt sich das Leben noch mehr. Es herrscht zwar noch größtenteils die Stimmung Kriegsgeneration vor und es gelten die alten Regeln - vor allem am Land-, doch es gibt trotzdem eine Art Aufbruchsstimmung. Reiselust bei den jungen Wilden, Wünsche an eine bessere Zukunft, an ein besseres Leben, an die Welt da draußen. Und es sieht so aus, als würde es so weitergehen. Die jüngste Generation nabelt sich letztlich in die große Hauptstadt, besser bekannt als Wien, ab. Immer wieder zieht sich auch der rote Faden im Roman durch Fehler, die schon die Mutter machte, sowie Erbkrankheiten, die man vielleicht bekommen könnte. Genauso wie Dinge, die man Jahre später genau wie die Mutter macht und früher am Bruder, Ehemann etc. getestet hat.

Die Autorin beschäftigt sich sehr vielfältig mit dem Sachverhalt Erbgut, was man von wem, in die Wiege gelegt bekommt und annehmen möchte. Manche Beziehungen knicken oder brechen gar auseinander. Sie beschreibt, wie Frieda für Arno teilweise ein Mutterersatz ist. Wie Rosa und Maria immer noch als Halbschweizerinnen zu kämpfen haben und wie Rosa sich als Schwiegertochter in einer neuen Familie zurechtfindet. Das mussten auch schon Johanna und Sofia erleben, die richtige Probleme hatten. Johannas Eltern beglückwünschten sie nicht zu ihrer Wahl, für die sie später die Folgen trägt. Sofia wiederum sieht sich schon bald mit Fremdenhass und einem Ehemann da, der lieber nicht auffällt. Erbe, Erbgut - innen und außen-, sichtbar und wahrnehmbar. Für welche Dinge ist jeder Mensch selbst verantwortlich, was ist die eigene Entscheidung und was steht nicht in meiner Macht, ist  Schicksal, fällt unter Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Auch die jüngste Generation –die Ich Erzählerin- steht vor dem Problem "Familie". Auf der einen Seite möchte man auf eigenen Beinen stehen und Entscheidungen treffen, seine Selbstständigkeit beweisen, niemand zur Last fallen, nichtsdestotrotz gelangt man manchmal an den Punkt für Unterstützung. Es gibt den Spruch: „Freunde kann man sich aussuchen. Familie nicht“, doch so leicht lässt sich das Band dann trotzdem nicht lösen, denn daheim ist es doch (oft) am Schönsten –das gilt natürlich ebenso für Ersatzfamilien und gute Freunde, die man sich ausgesucht hat. Erbkrankheiten sind tragisch und das Risiko kann mittlerweile vielleicht schon minimiert werden, allerdings für Dinge wie die Sippenhaft von Familienmitgliedern, Rassismus und vielen mehr müssen wir unbedingt reden! Das tut Bettina Scheiflinger, unaufdringlich, entschieden, aber mit dem nötigen Maß an Empathie in ihrem meisterhaften Roman "Erbgut". Diesem Buch gebührt mehr als eine große Leseempfehlung!

Erbgut
von Bettina Scheiflinger
erschienen bei Kremayr & Scheriau
Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 22,00€

 

Stephanie Ambros