In seinem Mammutwerk "Das Zeitalter der Erkenntnis" blickt der Nobelpreisträger Eric Kandel auf seine Geburtsstadt Wien, überwindet die Kluft zwischen Kunst und Naturwissenschaft und eröffnet eine neue Dimension der Geistesgeschichte.
Es war vor etwa 100 Jahren, da schaute die Welt gebannt auf die Metropole Wien. Denn an diesem Ort wurde damals ohne jede Übertreibung Weltgeschichte geschrieben. Hier tummelten sich nicht nur Hitler, Stalin und Tito, wie Florian Illies in seinem Buch 1913 so kongenial veranschaulicht, hier verschmolzen auch Kunst und Wissenschaft in einer geradezu ungeheuerlichen Synthese, die als Wiener Moderne in die Geschichte eingehen sollte. Ob Gustav Klimt oder Sigmund Freud, ob Arnold Schönberg oder Arthur Schnitzler, sie alle wurden von dieser pulsierenden Stadt geformt und schafften etwas, für das sie bis heute bewundert werden: Auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschäftigten sie sich mit dem Unbewussten.
Brücke über die Kluft
Genau an diesem Punkt setzt Eric Kandels über 700 Seiten starkes Buch Das Zeitalter der Erkenntnis an. Unbewusst, also ganz im Sinne der Thematik, fragt man sich, ob dies auch seiner persönlichen Biografie geschuldet ist. 1929 als Jude in Wien geboren, musste er bereits als Kind nach dem Anschluss Österreichs aus seiner Geburtsstadt fliehen. Doch große Sentimentalitäten sucht man in seinen Zeilen letztlich vergeblich. Dem Medizinnobelpreisträger geht es vielmehr darum, eine neue Dimension der Geistesgeschichte zu etablieren. Wie es im Wien des Fin de Siècle so mustergültig der Fall war, setzt er die noch immer viel zu stark in ihren Disziplinen gefangenen Wissenschaftszweige zueinander in Beziehung und durchschreitet das Jahrhundert bis hin zur Gegenwart, indem er Kunst, Psychologie und Neurologie in ein stetiges Wechselspiel verstrickt.
Ganz der Wissenschaft verpflichtet
Frei von den Zwängen der Wissenschaftsgemeinde, aber doch ganz der Wissenschaft verpflichtet, schafft dieses interdisziplinäre Meisterwerk den Spagat zwischen historischen Betrachtungen und aktuellen Erkenntnissen. Leicht wird es dem Leser dabei allerdings nicht gemacht. Denn auch wenn der mittlerweile fast 84-Jährige sein Buch an ein allgemeines Lesepublikum adressiert, so handelt es sich keineswegs um leichte Kost für den Nachttisch. Ein amüsanter Sprachgestus gespickt mit Anekdoten, wie ihn etwa sein Kollege Oliver Sacks so meisterhaft beherrscht, ist Kandels Sache nicht. Das hat aber durchaus auch seine Vorteile. Alles wird mit einer Grundsätzlichkeit behandelt, die man andernorts häufig vermisst, so dass es allen interessierten Nicht-Fachleuten ermöglicht wird, fundiert in die komplexe Thematik einzutauchen. Infolge des weitgreifenden Ansatzes des Buches ist dies auch essenziell: Hirnforscher mit einem Abschluss in Kunstgeschichte gibt es erfahrungsgemäß nur wenige.
Das Ende als Anfang
Formal ist Das Zeitalter der Erkenntnis in fünf Teile untergliedert. Über Psychoanalyse, kognitive Psychologie sowie visuelle und emotionale Reaktionen auf Kunst gelangt Eric Kandel zu seiner eigentlichen Kernaussage, die einem Appell gleichkommt: Die Kluft zwischen Kunst und Naturwissenschaft muss zugunsten einer allgemeinen Wissenschaft des Geistes geschlossen werden. Sein Buch ist dabei aber nur ein erster Schritt in eine neue Richtung. Denn von der fruchtbaren Atmosphäre, wie sie zur Zeit der Wiener Moderne herrschte, sind wir mittlerweile wieder weit entfernt. Das muss selbst Kandel eingestehen und wird darüber dann doch noch ein bisschen sentimental.
Das Zeitalter der Erkenntnis – Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute
von Eric Kandel
erschienen im Siedler Verlag
Gebunden, 704 Seiten, 41,20€