Jede Tote ist eine zu viel!

Nicole Widler hat mit "Heimat bist du toter Töchter" ein Fachbuch über das Thema Femizid in Österreich geschrieben, dass die Gesellschaft so dringend braucht. Empathisch und entschieden nimmt sie sich der Thematik an, die ausgezeichnet recherchiert ist. Ein Muss, denn die Morde an Frauen müssen ein Ende nehmen.

Von 2010 bis 2020 gab es 319 Frauenmorde in Österreich. Die Zahl der Mordversuche beträgt 458, doch auch mitten in der Pandemie (2020/21) ist Femizid hier kein Fremdwort geworden!
Journalistin und Autorin Yvonne Widler begibt sich in ihrem Buch "Heimat bist du toter Töchter" auf Spurensuche. Sie spricht mit Hinterbliebenen und Opfern, bekommt Einblick in die Arbeit, Handhabe und Gesetze von Sozialarbeiter:innen, Polizist:innen und Richter:innen, unterhält sich mit Gutachter:innen und versucht vor allem Aufklärung zu betreiben. Nach mehr als nur informativen und verständlichen Fakten zu einem Thema, folgt eine größere Fallgeschichte. Ab und zu gibt es auch in den Fakten verpackt verschiedene Extra-Fälle. Diese sind mit viel Feingefühl und ohne Effekthascherei verfasst. Der Autorin war es wichtig den Frauen eine Stimme zu geben. Dieses Vorhaben ist ihr gelungen.

Zuerst einmal ist es Widler ein wichtiges Anliegen, die Phrase, warum die Frau nicht aus der Beziehung gegangen sei, aus der Welt zu schaffen. Ebenso die Frage der Nationalität. Im Buch lernt die Leser:innenschaft dann mehrere Dinge dazu, die dann auch wieder zusammenhängen. Für die einen sind es kulturelle Dinge, für andere wieder finanzielle Sorgen, oder beides. Kinder, psychische und physische Gewalt werden als Druckmittel eingesetzt etc. Nicht immer ist das alles sichtbar. Viele Betroffene wissen auch nicht, welche Rechte ihnen zustehen oder haben kein Vertrauen. Wie denn auch, wenn ihnen nicht geglaubt wird. Ein Fall von Angehörigen zeigt, dass die eine Tochter als „nicht trauernd“ hingestellt wurde und erst nachträglich Schmerzensgeld bekam. Dieses belief sich jedoch immer noch auf 2000 Euro weniger als der Rest der Familie. Jetzt stellt sich die Frage, ob nicht jeder Mensch anders trauert?!
Auch der (richtige) Umgang der Presse mit diesen heiklen Angelegenheiten ist wichtig. Ein paar gute Beispiele, wie man es besser machen kann, führt die Schriftstellerin in ihrem Werk an. Dass man völlig geschmacklos Bilder auf dem Begräbnis eines Opfers schießt, sollte eigentlich klar sein. In der Tat schrecken manche Fotografen selbst davor nicht zurück. Erschütternd.
Einigen fehlt das Wissen was ein Femizid ist. Viel zu oft ist von Familientragödie, erweitern Selbstmord oder der Sexattacke zu lesen. Yvonne Widler schlüsselt den Begriff genau auf und veranschaulicht wie dieser entstand.

Die Autorin geht weiters der Frage auf den Grund, wie gut alles in Frauenhäusern funktioniert, wie gravierend der Unterschied von Wien, Graz und anderen Bundesländern ist und lässt sich deren Aufbau ganz zu Beginn schildern. Ebenfalls interessant ist das Projekt „Neustart“, bei welchen gewalttätigen Männern, die zwar weggewiesen, allerdings nicht als grob gefährlich eingeschätzt wurden, in sechs Einheiten beigebracht wird, wie sie ihr Verhalten ändern können. Eine Garantie gibt es jedoch keine. Auch nicht für die zuvor ab und an nicht geführten Gefährdungskonferenzen.
Es ist weiters spannend zu erfahren, welche Mittel und Gesetze die Polizei hat. Oft stellt man die Exekutive als die Bösen hin, doch wenn das Opfer jemand Weggewiesenen wieder in die Wohnung lässt, sind die Beamten machtlos. Dennoch sind Schulungen für eine bessere Früherkennung, gezieltes und einfühlsames Fragen notwendig. Eine Erkundigung muss sein, ob Stalking vorliegt.

Die fesselnden Gespräche mit der Richter:in und Gutachtern:innen/Psychiater:innen über die Psyche von den Tätern stechen überhaupt hinaus und ob man will oder nicht, man kann das Buch nicht weglegen. Diese sehen Frauen nämlich oft als Besitz und Eigentum, aus den verschiedensten Gründen. Yvonne Widler bringt genau das alles auf den Punkt, berührend, empathisch, energisch. Denn jeder Femizid ist einer zu viel!

Heimat bist du toter Töchter
von Yvonne Widler
erschienen bei Kremayr & Scheriau
Hardcover kaschiert, 256 Seiten, 24,00€

 

Stephanie Ambros