Daniel Zipfel erzählt in seinem Debütroman "Eine Handvoll Rosinen" Geschichten der modernen Migration. Nüchtern und präzise versucht er, der unübersichtlichen Dimension von Flucht gerecht zu werden und zeichnet dabei tiefgründige Figuren, die der Thematik ein Gesicht geben.
Das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen ist überfüllt, obdachlose Flüchtlinge prägen das Ortsbild, das restriktive und überforderte Asylregime Europas nimmt von den hilfesuchend ausgestreckten Händen Fingerabdrücke. "Zwei Erwachsene, zwei Minderjährige, Afghanistan. AIS-Zahlen 0325418 bis 0325421, laut Bescheid des Bundesasylamts ungarische Zuständigkeit." Auf einem Autobahnparkplatz steht ein Kühllaster, in ihm erstickte Flüchtlinge. Was klingt wie ein Protokoll der letzten Wochen, entstammt tatsächlich dem Romandebüt "Eine Handvoll Rosinen", angesiedelt im Herbst 2003.
Erschreckend sind die Parallelen zu aktuellen Ereignissen in Daniel Zipfels Erstling, vor allem erschreckend absehbar. Dem Autor eine prophetische Qualität zu attestieren wäre falsch, denn es hieße, den Charakter der Entwicklungen im Bereich des Schicksalhaften, des Tragischen, aber nicht Erwartbaren anzusiedeln. Das Gegenteil ist der Fall. Der Asylrechtsjurist Daniel Zipfel schildert eine Welt, in der Flucht und Migration auf der Ebene des Verbrechens verhandelt werden, eine schöne Stange Geld und regelmäßig auch das Leben kosten. Tod auf der Flucht ist kein trauriges Einzelschicksal, sondern in Kauf genommenes Resultat eines disfunktionalen Systems.
Mehrere Arten von Ordnung
Ludwig Blum ist ein Vertreter dieses Systems. Früher bei der Gendarmerie, nun bei der Fremdenpolizei, gewissenhaft und in festem Glauben an die Ordnung der Dinge. Abschiebungen gehören dazu, sind der Vollzug einer Rechtsordnung und keine persönliche Entscheidung, ist Blum überzeugt. "Mit dem Davonlaufen muss irgendwann Schluss sein." Blums Ideale sind die Ordnung und Pflichterfüllung, sie geben ihm in einer überforderten Umgebung, aber auch im Privatleben Halt und Orientierung. Ein zugedrücktes Auge ist nicht Blums Sache, ohne dabei ein hartherziger Mensch zu sein. Das Auftauchen des Dolmetschers und Schleppers Nejat Salarzai bringt dieses Gerüst ins Wanken.
"Es gibt keine einfachen Antworten mehr, Herr Amtsdirektor. Es gibt mehrere Arten von Ordnung." Ordnungen namens Dublin II, namens Gründlichkeit, namens Humanität. Ordnungen, immer Plural. Zunächst widerwillig und stets hin- und hergerissen beginnt Blum, Salarzai zu helfen, lässt Fingerabdrücke verschwinden, verhindert Abschiebungen und gibt Informationen weiter. Fremdenpolizist Blum - ein Schlepper, Fluchthelfer oder Menschenfreund? Es gibt mehrere Arten von Ordnung.
Eine intensive und fesselnde Geschichte entwickelt sich zwischen den Polen Flucht und Pflicht, die Grenzen zwischen Legalität, Verbrechen und Menschlichkeit sind schwimmende und zeigen die Ambivalenz der Thematik auf. Das wird besonders an der Figur Salarzais besonders deutlich, der unterschiedliche Interessen zu verfolgen scheint und dessen Beweggründe zur Fluchthilfe nicht eindeutig zu benennen sind. Geschickt zieht er in einem schwer durchschaubaren Gewirr aus Akteuren und Migrationsbewegungen die Fäden und spielt sein zwischen Skrupellosigkeit und Menschlichkeit oszillierendes Spiel.
Mit klarer, beinahe nüchterner Sprache gibt Daniel Zipfel den Beteiligten ein Gesicht, ohne dabei in flache Figurenzeichnungen und Rollenklischees zu verfallen. Differenziert und nicht wertend schildert der Jungautor Geschehnisse aus einem hochrelevanten und immens aktuellen thematischen Komplex, lässt Fachwissen dezent einfließen und gesteht den Lesenden genug Raum für Interpretationen und Reflexionen zu, indem er einer psychologisierenden Charakterisierung widersteht. "Eine Handvoll Rosinen" lebt von der Distanz, die Zipfel zum Geschehen einhält, um der Geschichte gerecht zu werden. Gezeichnet wird kein Einzelschicksal, keine Schilderung von der Ohnmacht des Individuums, vielmehr handelt es sich um eine Erzählung der modernen Migration, die versucht, der Komplexität der Thematik und der Heterogenität der Beteiligten zu entsprechen.
"Sehen Sie nur hin", fügte Nejat hinzu, versuchte das Donnern eines Lastwagens zu übertönen und zeigt auf die Autobahn, "das ist die moderne Migration. Machen Sie sich Notizen. Mehr können Sie nicht tun." Eine genaue Beobachtungsgabe zeichnet Zipfel ebenso aus, wie das Bemühen, Flüchtlinge nicht als apolitische Subjekte ohne Agenda zu skizzieren. Ein von Mitleid geprägtes Opfer-Narrativ findet sich bei ihm zugunsten einer ausgewogenen Skizzierung der Figuren nicht, "Eine Handvoll Rosinen" erkennt seine Handelnden als selbstbestimmte und gestaltende Personen in einem unübersichtlichen Wirrwarr. Und immer wieder taucht rund um Blums Figur das utopische Wort "Ordnung" auf. Ein Wort, in dem der Wunsch nach Verständnis und Greifbarkeit mitschwingt. Ob er glaube, dass mehrere Arten von Ordnung bestehen könnten, fragt Blum irgendwann einmal einen Freund. "Es tut mir leid, Ludwig, aber es gibt keine Ordnung, es gibt nur Willkür, Chaos und am Ende ist alles Glück. Was Ordnung ist, bleibt dir selbst überlassen. Wir sind mitten auf dem Meer."
Eine Handvoll Rosinen
von Daniel Zipfel
erschienen bei Kremayr & Scheriau
gebunden, 240 Seiten, 19,90€ (A)
978-3-218-00997-3