Das Impuls Tanz Festival bot diesen Sommer neben zahlreichen zeitgenössischen Tanz-Performances auch in an die 200 Workshops die Chance, mehr über den eigenen Körper und den Umgang damit zu erfahren – Zeit für einen Selbstversuch.
Montag, 11. August, 17:30, Arsenal, Objekt 19
Was mache ich hier eigentlich? Der Hof des ehemaligen Militärgeländes im Südosten Wiens ist gefüllt mit hip gekleideten Leuten, die lässig zum Takt der Musik wippen und in verschiedensten Sprachen ihre Tanzstyles diskutieren. Ich habe noch nie richtig getanzt. Klar, ab und zu hat es mich mitgerissen, wenn es beim Weggehen richtig gute Musik gespielt hat. Ob das, was ich dann gemacht habe, wirklich Tanzen genannt werden kann, ist eine andere Frage.
Ich bin viel zu früh. Um 18:00 soll es losgehen. Alle wirken so offen und kommunikativ. Ich bin es nicht. Ich habe relativ lange darüber nachgedacht, was ich anziehen soll. Angenehm sollte es sein, aber auch nicht total uncool aussehen. Am besten aber so, dass ich möglichst wenig auffalle. Ich setzte mich auf eine der umgedrehten Paletten, die hier im Innenhof aufgestellt sind. Das angebrachte Polster aus Jute ist vom vorangegangenen Regen pitschnass, mein Hintern jetzt auch. Super. Bloß nicht auffallen. Ich ziehe meinen Pulli aus, obwohl es nicht wirklich warm ist und binde ihn mir um in der Hoffnung, dass der große nasse Fleck noch trocknen wird in den nächsten zehn Minuten. Ich gehe rein. Aus den Tanzsälen, die eigentlich als Probebühnen für Burgtheater und Staatsoper dienen, tönt laute Musik. Ich komme mir ein bisschen vor, wie in einem dieser Tanzfilme, wo das graue Mäuschen am Schluss zum Profitänzer avanciert. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich betrete das Studio C. Eine große Halle mit Fabrikcharme. Die riesige Fensterfront an der oberen Hälfte lässt viel Licht rein. Der Boden ist mit einem gelben Tanzteppich ausgelegt. Ein paar Leute liegen schon dort und dehnen sich, andere sitzen etwas verloren in der Ecke. Ich setze mich dazu. Ich habe mich für den Kurs „gravity happens – Principles of Movement“ entschieden. Laut Beschreibung geht es darum, „die innewohnende Intelligenz des Körpers und die Freude an Bewegung zu wecken und nützen zu lernen.“ Bei mir ist sie noch im Tiefschlaf. Die Dozentin ist Kerstin Kussmaul. Eine zierliche Frau mit braunen schulterlangen Haaren, Tanzpädagogin und pünktlich um sechs bittet sie uns in einen Kreis. Wir stellen uns vor. Die Gruppe ist ziemlich heterogen: Altersgruppe von 16 bis 75, Berufe von Architekt bis Fotografin, aus Österreich, Spanien, Deutschland, Italien, Weißrussland. I would consider myself a control freak and I would like to let go of myself in this course. Meine Vorstellung ist zumindest schon mal ziemlich offen und ehrlich. Darum soll es hier doch gehen.
Folding and Unfolding ist das Thema des heutigen Tages. Wie kann ich mich möglichst ökonomisch zusammen- und wieder auseinanderfalten und mich dabei auch noch fortbewegen? Wir finden uns in Paaren zusammen. Einer tanzt, einer schaut zu, die Kamera kommt einem ganz nahe. Nähe ist etwas, das ich eigentlich nur in den seltensten Fällen zulasse. Zu den Klängen von „Underwater Love“ soll ich mich jetzt faltend und entfaltend von einer Seite des Saals zur anderen bewegen. Meine Partnerin, eine Musikerin, rollt und läuft und kriecht neben mir her und beobachtet mich. Irgendwie funktioniert es. Ich mache die Augen zu und falte und entfalte mich. Wir sollen nicht denken, sondern spüren. Ich denke die ganze Zeit, ich muss jetzt spüren. Während den doch sehr intimen Partnerübungen entsteht eine ganz plötzliche Verbundenheit, die einfach passiert. Nicht denken, nur spüren. Wir beginnen eine gemeinsame Choreographie einzuüben. Wer keine Fehler macht, der kann nicht wachsen, no growth without mistakes. Es ist nicht nur Tanz-, es ist Lebenstraining.
Als der Kurs an diesem Abend vorbei ist, bin ich erstaunt über mich selbst. Ich bin heute schon an Grenzen gegangen, die ich niemals nur zu berühren geglaubt hätte. Ich bin außerdem auch ziemlich fertig. Ohne, dass ich es wirklich gemerkt habe, war das körperlich sehr anstrengend. Als ich mich ins Auto setze ist mein Kopf leer und frei. Auf der Fahrt nach Hause drehe ich leise Musik auf und fühl mich gut.
Dienstag, 12.08. 17:45, Arsenal, Objekt 19
Habe ich das gestern wirklich gemacht? Irgendwie kann ich mir meine gestrige Lockerheit selbst nicht erklären. Bin ich tatsächlich mit geschlossenen Augen durch einen Tanzsaal gerollt und gekrochen und gefaltet, während jemand anders mich dabei angestarrt hat? Kann es noch schlimmer kommen?
Heute sollen wir unser Zentrum der Schwerkraft finden. Das Steißbein einrollen, wie ein Hund seinen Schwanz. Hoffentlich heute keine Partnerübungen. Bitte findet euch in Paaren zusammen! Es geht um Vertrauen. Ich schließe meine Augen, meine Partnerin führt mich durch den Saal. Unsere Zentren sollen sich finden. Unsere Hüften sind aneinander gedrückt, ich soll einfach spüren, nicht denken. Sie läuft schnell und langsam, sie kniet sich nieder, steht wieder auf, sie soll aufpassen, dass wir nicht mit anderen zusammenstoßen. Ab und zu mache ich die Augen ein klein wenig auf und lunze. Dann geht gar nichts mehr und wir verlieren unsere Verbindung. Die nächste Übung, die nächste Herausforderung. Bewege dich von einer Seite der Halle zur anderen mit deinem Steißbein immer genau 20 Zentimeter vom Boden entfernt, nicht mehr, nicht weniger und mache dabei noch möglichst kreative und impulsive Bewegungen, die einfach so aus deinem Körper herauskommen. Ist auch eine gute Möglichkeit, wenn man sich in kurzer Zeit ordentlich aufwärmen will. Ja, das ist es. Als ich meine Runde beendet habe, setze ich mich hin und beobachte die anderen. Es ist wie Zombieland. Von außen betrachtet sieht es zum Lachen aus, wie die Leute hier über den Boden kriechen, sich winden und abmühen. Wenn man es grad selbst gemacht hat, ist es irgendwie schön, bewundernswert.
Wir bauen unsere Choreographie weiter aus, diesmal schon schneller und mit Musik: Radiohead - A Wolf at the Door. Wenn sie es macht, sieht es so schön und geschmeidig aus. Wenn ich es mache kracht und knallt es. Die blauen Flecken, die am Ende des Kurses meinen Körper übersäen sind unzählbar. „Pain is my memory“ hat eine Teilnehmerin auf ihrem T-Shirt stehen. Die blauen Flecken zeigen euch, was ihr falsch macht. Ihr könnt auch Knieschoner anziehen, bei mir führen sie nur zu bad habits, meint die Dozentin. Wann habe ich mich überhaupt schon mal zwei Stunden nur mit mir selbst beschäftigt? Ich freue mich auf morgen.
Mittwoch, 13.08. 17:50, Arsenal, Objekt 19
Heute werde ich weit über meine Grenzen hinausgehen müssen, was körperliche Nähe und Scham angeht. Ich lege den Kopf in die Hände meiner neu gefunden Partnerin und soll ihn los lassen, ihn schwer machen. Sie bewegt ihn langsam hin und her, hebt ihn auf. Dreht mich, richtet mich auf. Mein Kopf ist ein riesiger Ballon. Dann soll ich mich wieder bewegen. Mich auf meine Wirbelsäule konzentrieren. Sie unterstützt mich dabei, drückt mich, streicht hier oder dort drüber. Ich fühle mich gar nicht wohl. Ich kann nicht locker lassen. Es fällt mir schwer so zu sein, wie ich bin. Es ist mir nicht egal, was andere über mich denken. Wir machen einen Wall Dance. Die Hälfte der Gruppe steht an der Wand, der jeweilige Partner einem gegenüber. Die Musik wird eingeschaltet und ich tanze mit der Wand. Soll immer mit meiner Wirbelsäule an ihr dran sein. Mein Partner beobachtet mich dabei. Alle beobachten mich. Ich fühle mich total ungeschützt und ausgesetzt. Ich kann die anderen nicht ausschalten und mich völlig auf mich selbst einlassen. Als wir wechseln und ich beobachte, bin ich neidisch auf die, die es können. Spüren, nicht denken.
Donnerstag, 14.08. 17:45, Arsenal, Objekt 19
Jetzt kann es nicht mehr schlimmer werden. Gestern bin ich weit gegangen. Ich habe heute eine Fotografin dabei, die Fotos von mir machen soll. Die Dozentin bittet mich, dass sie erst in der zweiten Hälfte fotografiert, weil es am Anfang etwas delikat wird. Oh nein, bitte nicht. Jetzt wird es erst delikat? Es geht um Improvisation, spontan sein. Wir gehen im Kreis auf allen vieren mit geschlossenen Augen aufeinander zu. Die Köpfe, die sich berühren, sind für heute Partner. Tatjana, das passt irgendwie. Dadurch, dass mit der Fotografin jetzt jemand hier ist, der mich kennt, ist es schwieriger. Ich fühle mich viel schneller lächerlich. Sehe es durch ihre Augen. Eine ist „Mover“, eine ist „Witness“. Ich will es gleich hinter mich bringen und beginne mit der Bewegung. Wir sollen mit geschlossenen Augen durch den Raum tanzen und werden vom Witness dabei genau beobachtet. Zehn Minuten lang! Die Dozentin sagt, wir sollen nicht planen was wir machen, während ich plane was ich mache. Es geht los, ich warte auf die Musik. Es kommt keine Musik, zehn Minuten ohne Musik. Die Zeit kommt mir ewig vor. Ich bin unsicher, was ich machen soll. Ich renne rückwärts durch den Raum, stoppe, drehe mich. Warum ist es plötzlich so still? Starren mich grade alle an? Ich lasse mich auf den Boden fallen, kauere mich zusammen, strecke mich aus, rolle mich zur Seite, springe auf, werfe die Hände in die Höhe und lasse sie wieder fallen. Wie das wohl grade aussieht? Als Witness fühle ich mich in der weit besseren Rolle. Es ist fast unbeschreiblich, was sich hier abspielt. Die Leute spielen auf unsichtbaren Klavieren, tragen nicht sichtbare schwere Lasten durch den Raum, drehen sich schnell und langsam, verrenken sich, sind ganz still und unbewegt. Es fasziniert mich. Es berührt mich. Gemeinsam mit dem Partner sollen wir nun aus Teilen unseres Bewegungsablaufs eine kleine Choreographie entwerfen. Aus impulsiven, unüberlegten Bewegungen entsteht ein Tanz. Fünf Leute aus der Gruppe kommen zu uns und wir bringen ihnen unsere Choreographie bei. Tatjana und ich tragen pinke T-Shirts. Wir sind die Gruppe pink. Wir stellen uns alle an den Rand der Tanzfläche. Die Musik läuft. Einer schreit Gruppe pink, vier! Ich und drei andere laufen auf die Tanzfläche und starten unseren Ablauf. Gruppe blau solo! Eine junge Frau läuft los und tanzt. Gruppe grün 10! Die nächste Choreographie startet. Eine ganz eigene Dynamik entsteht, ein großes Ganzes das zusammenzugehören scheint, eine Performance, die aus zehn Minuten sich mit geschlossenen Augen durch den Raum bewegen begonnen hat. Als es vorbei ist bekommen wir Applaus. Ein paar Zuschauer haben sich eingefunden, ich habe sie gar nicht bemerkt. Ich fahre nach Hause und lass die Musik heute aus. Als ich angekommen bin, weiß ich gar nicht über was ich nachgedacht habe.
Freitag, 15.08., 18:01, Arsenal, Objekt 19
Als ich das Studio C betrete sind die anderen schon dabei sich paarweise abzustreicheln und abzuklopfen. Wir machen uns locker für die Vollendung unserer Choreographie. Wir sollen unsere eigens improvisierten Abläufe von gestern einbauen. Sechs Takte soll das genau dauern. Die Musik startet – The wolf at your door - und ich tanze. Ich hüpfe auf einem Bein und ziehe mich zurück, werfe mich nach vorne, rolle mich nach links, rolle mich nach rechts, falte und entfalte meinen Körper, mache Fehler, springe auf, drehe mich und drehe mich und lass mich los.