Jeder Zweite ist in Wahrheit ein anderer

Die neueste Erzählung des isländischen Wortkünstlers Sjón verwebt Realitätsnahes mit Fantastischem und wagt sich an die potenzielle Geschichte eines Reykjavíker Straßenjungen im frühen 20. Jahrhundert. Sprachgewaltig und unkonventionell gehalten ist "Der Junge, den es nicht gab" ein Plädoyer für die Perspektive des Möglichen.

"Es brodelt zwischen den Welten." Am Horizont malt der Vulkanausbruch der Katla den Himmel apokalyptisch rot und im Schatten einer Felswand bläst Máni Steinn Karlsson seinem Kunden einen. Máni Steinn, sechzehn Jahre alt, Vollwaise und Schulabbrecher. Die Welt erklärt er sich über das Kino, seit fünf Jahren geht er beinahe täglich in eines der beiden Lichtspieltheater in Reykjavík, 1918 eine abgelegene Kleinstadt und streng konservativ. Homosexualität ist in dieser einfachen Ordnung nicht vorgesehen und hat versteckt ausgelebt zu werden, auch dem vergleichsweise jungen Kino werden von mancher Seite Zweifel entgegengebracht: Es sei moralisch verderblich und mache das Publikum zum Voyeur. Ein Junge wie Máni Steinn, der sich als Gelegenheits-Sexarbeiter seine Filmleidenschaft finanziert, den ganzen Tag in der Stadt herumstreunt und elternlos bei einer Urgroßtante aufwächst, sucht sich seine Freiräume an der Peripherie der Gesellschaft.

Stummfilm und Fieberträume

Vampirstreifen, Chaplin-Slapstick und Polizeiklamauk mit Orchester-Vertonung schlagen dem Jungen den Bogen zu anderen Welten, tagträumend und doch hellwach streift er durch die Stadt und beobachtet das Geschehen, ordnet es in Zusammenhänge und verliebt sich in kleine Details. "Er macht sich einen Sport daraus, das lebhafte Treiben auf der Straße zu erforschen, mit der Weitsicht desjenigen, der ein halbes tausend Kinofilme gesehen hat, in denen jeder Blick, jede kleinste Geste, jedes Mienenspiel und jede Körperhaltung mit Bedeutung aufgeladen ist und Gefühle oder Absichten verrät, gute wie auch böse. Ja, der Mensch ist für ihn ein offenes Buch."
Besonders gerne beobachtet er Sóla Guðbjörnsdóttir, ein motorradfahrendes Mädchen seines Alters, das es ebenfalls nicht allzu sehr mit den Konventionen hält und über das Treiben am Reykjavíker Strich gut Bescheid weiß. Stetig kreisen seine Gedanken um sie, ohne dass sich mit Sicherheit ausmachen ließe, worauf diese Faszination begründet: Ist es das Anziehende eines starken, selbstbewussten Mädchens, das schwärmerische Interesse am Menschen oder profanes pubertäres Verliebtsein?
Eine dieser Fragen, die man beim isländischen Original Sjón nicht beantwortet bekommen wird. Seine Stärke liegt in der Anlage seiner Geschichte, im Skizzieren der Figuren und in der dabei an den Tag gelegten Ausgewogenheit zwischen Präzision und Abstraktion. Vor allem, da Der Junge, den es nicht gab eine Geschichte der Möglichkeiten und Träumereien ist, steht dieser Stil dem Buch bestens zu Gesicht.

Sjón siedelt seine Erzählung im ereignisreichen Jahr 1918 an und hält mit den historischen Gegebenheiten auch nicht hinter dem Berg: Das Ende des 1. Weltkrieges, der Ausbruch der Katla und die Unabhängigkeitsbestrebungen der Isländer von Dänemark werden erwähnt und mit dem Dampfer Botnia legt am 19. Oktober auch die Spanische Grippe im Reykjavíker Hafen an. Máni Steinn spürt instinktiv, dass die große, weite Welt nun auch in Reykjavík spielt. Rasch breitet sich die Influenza aus und bald liegen zwei Drittel der Stadtbevölkerung todkrank in ihren Betten, auch er selbst.
Geschickt verwebt Sjón Fieberträume und Wahnvorstellungen mit luziden Momenten und historischen Zitaten und lässt dabei die Grenzen zwischen Realität und Fiktion wunderbar verschwimmen, ohne der Erzählung dabei den Charakter des Möglichen zu rauben. In einem konkreten historischen Setting siedelt der Autor die Geschichten eines Jungen an, der zwischen Spanischer Grippe, sozialer Ächtung und den Kinoleinwänden der Weltneugier ein Denkmal setzt.

Ein Butterfly-Effekt

Nonkonformistische Erzählmuster zeichnen den vielseitig aktiven Sjón (mit bürgerlichem Namen Sigurjón Birgir Sigurðsson) seit jeher aus, auch das Faible für Rückgriffe auf altes isländisches Dichtwerk, die Verortung der Handlung an historischen Zäsuren und der Grenzgang zwischen realitätsnaher Poesie und surrealen Elementen - ohne dabei das Eine vom Anderen trennen zu wollen - waren schon in früheren Romanen wie Schattenfuchs oder dem meisterhaften Das Gleißen der Nacht von Bedeutung.
Auch Der Junge, den es nicht gab atmet diesen Charakter des Unkonventionellen und provoziert im Verlaufe der Erzählung immer deutlicher eine Frage: Wer ist nun Máni Steinn?

Dass sich Sjón dankbarerweise nicht als allwissender Erzähler aufspielt und an die Oberfläche gespülte Fragen konsequenterweise ihrer Beantwortung harren, wurde an dieser Stelle bereits erwähnt. In der Tat verbleibt es ein Ding der Unmöglichkeit, den Protagonisten auf eine Identität festzunageln oder eine eindeutige Biografie aus den knapp 150 Seiten zu destillieren. Denkbar sind unterschiedlichste Lesarten, die Figuration ist bewusst so gehalten, dass mehrere Ansätze möglich erscheinen und Ambivalenzen den konventionellen Wunsch nach linearer Biografisierung sabotieren.
So treten am Ende der Geschichte zwei weitere Erzählstränge zu Tage, die dem Roman weitere Deutungsarten zuteil werden lassen und metafiktionale Anklänge haben. "Er tastet nach seinem Körper und greift ins Leere. Er spürt nichts als einen Flügelschlag, dort, wo früher einmal sein Herz gewesen ist." Spätestens die potenzielle Verwandlung in einen Schmetterling, der auf Sjóns Urgroßvater landet, überzeugt den Leser von der Intention des Autors, eine Geschichte der Möglichkeiten vorzustellen.

Einzige Schwäche des Romans ist sein Hang zur übergenauen geschichtlichen und geografischen Verortung, die den Freiräumen in der Charakterisierung der Figuren zuwiderläuft. Zentrale Ereignisse der Handlung müsste Sjón nicht zwangsläufig stets an Daten historischer Relevanz und am Vorabend dramatischer Ereignisse stattfinden lassen, damit sie funktionierten, bisweilen fördert diese Praxis stattdessen ein unnötiges Mythisieren. An diesen Stellen geht die Tendenz zur Legende zu Lasten der erzählerischen Substanz, die Sjóns neuestes Buch zu einem sprachlich wie konzeptionell ausgenommen starken Unterfangen entlang der menschlichen Fantasie machen.
Eingebettet in reale, überprüfbare historische Rahmenbedingungen ist Der Junge, den es nicht gab die Erzählung von einem Jungen, den es eben nicht gab. Oder doch? Zumindest gegeben haben könnte es ihn. Und vielleicht war es ja sowieso Manuel Neuer.

Der Junge, den es nicht gab
von Sjón, aus dem Isländischen übersetzt von Betty Wahl
erschienen bei S. Fischer
gebunden, 149 Seiten, 18,50€ (A)
978-3-10-002239-4

 

Julius Schlögl