"Buchschreiben ist eigentlich mühsam"

Der Autor und Lehrer Nikolaus Glattauer im Gespräch über sein neues Buch "Leider hat Lukas schon wieder...", seine Ansichten zum Schulsystem, die Motivation zu schreiben und warum sein eigenes Buch ihn als Leser nicht ansprechen würde.

"Na dann kommts doch zu mir in den Gemeindebau!" Ein Interview mit Nikolaus Glattauer auszumachen ist eine Sache von zwei Minuten und so stehen wir Ende September vor einem dieser massiven Wohnbauten und klingeln beim Autor. Zu seinem neuen Buch "Leider hat Lukas schon wieder" wollten wir ihn befragen - und landen dann doch bei ganz vielfältigen Themen. Ein Gespräch über das Schulsystem, Kulturpessimismus und warum er sein eigenes Buch nicht unbedingt kaufen würde.

fm5: „Leider hat Lukas schon wieder...“ ist eine Fortsetzung des vor zwei Jahren erschienenen "Leider hat Lukas...", müsste das Buch aber stattdessen nicht vielleicht „Leider ist unser Schulsystem noch immer...“ heißen?

Ja, genauso könnte es auch heißen. Denn das, was den Eltern in dem Buch widerfährt, ist natürlich eins zu eins die Abbildung des Versagens eines Schulsystems, das die Schule an die Elternhäuser delegiert. Das ist einer der Grundfehler in unserem Schulsystem, dass die Schule nicht in der Schule erledigt wird, sondern daheim und dass dadurch die bevorteilt werden, die funktionierende Elternhäuser haben. Sprich wo Mama und Papa Zeit haben, sich eine Nachhilfe organisieren können, wo geordnete Strukturen bestehen, die mit dem späteren Arbeitsmarkt kompatibel sind, die sind von Vorteil. Das heißt nicht, dass die das dann alle schaffen aber im Großen und Ganzen ist es so. Vor allem die Umkehrung stimmt: dort wo es im Elternhaus nicht normal abläuft, haben die Schülerinnen viel größere Probleme im Schulalltag, weil niemand auf sie achten kann oder will, Probleme in die Schule getragen werden und die Schule viel zu wenig Therapeuten, Psychologen und Betreuung anbietet.

Du forderst seit Jahren beinahe mantraartig, die "Festplatte Schulsystem" neu aufzusetzen. Wie würde das ausschauen?

Ich will es ja gar nicht mehr sagen, du sagst ja selber „mantraartig“. Dieses Interview ist insofern eine absolute Ausnahme, weil ich Diskussionseinladungen zu schulpolitischen Themen zu 90% ausschlage. Ich will dazu gar nichts mehr sagen und es ist ja alles bereits gesagt, auch von vielen anderen. Man weiß, was zu ändern wäre und die Schubladen sind voll mit Änderungskonzepten. Die derzeitige politische Situation erlaubt eine Veränderung, wie sie sein müsste, nicht.

Einer deiner Lieblingssätze im Buch scheint "Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab" zu sein. Hast du vom toten Pferd Schulpolitik sozusagen auf etwas Neues umgesattelt?

Ja das kann man so sagen. Ich habe dafür ein anderes Pferd bestiegen, das ich mit Humor von einer anderen Seite aufzäumen möchte. Ich appelliere dabei an die Eltern, vor allem in ihrer Selbstwahrnehmung etwas zu ändern. Wenn Eltern begreifen, dass die Probleme mit Kind daheim kein Einzelfall sind, sondern eine Folge des Schulsystems, dann wird der nächste Schritt das Hinterfragen Sein sein und irgendwann werden Eltern Veränderungen positiv gegenüber stehen. Das tun sie derzeit nicht. Eines der Hauptprobleme ist nämlich, dass Eltern keinen Druck in diese Richtung machen, weil sie glauben, es schade dem Kind. Eine bestimmte Klientel an Eltern natürlich, nämlich die, die das Sagen hat - Elternvertreter, im Elternverein organisierte, Eltern von Mittelstands- und Oberschichtskindern, die ein Interesse daran haben, den Status nicht zu verändern, weil sie glauben, der gegenwärtige Zustand sei immer noch besser als alles andere. Die Eltern, die von einer Veränderung sofort profitieren würden, haben die Möglichkeit zur Einmischung nicht oder nehmen diese Möglichkeit nicht wahr.

Ist denn ein Schulsystem überhaupt zu ändern, ohne dabei die Gesellschaft zu ändern?

Ja man könnte schon, das ist ja der Grund, weshalb es nicht die direkte, sondern die repräsentative Demokratie gibt. Ich erwarte von einem Politiker Entscheidungen, die möglicherweise auch unpopulär sind, aber an die sich Menschen sehr wohl gewöhnen würden.

Du hast selber gesagt, dass du diesbezüglich resignierst. Wie sollen sich denn Eltern in den Diskurs einbringen?

Selbstbewusst agieren, es muss sich im Verhältnis Eltern-Lehrer_innen etwas ändern. Besonders die, die vielleicht nicht gut Deutsch können, müssen stärker eingebunden sein. Aber der gängige Zugang der Lehrer_innen ist der, dass das Kind funktionieren soll und wenn etwas eben nicht funktioniert, dann hole ich mir die Eltern, Vater oder Mutter. In 90% der Fälle ist es eben die Mutter. Man müsste Eltern etwas mehr das Gefühl geben, dass ihr Wort zählt. Das fängt bei Kleinigkeiten an. Schulautonome Tage beispielsweise müssten gemeinsam ausgemacht werden, in der Praxis bestimmen aber die Lehrer die zwei Tage, die Eltern können das per Unterschrift nur mehr abnicken.

Wäre aber nicht vor allem auch eine stärkere Einbindung der Schüler angesagt? In deinem Buch dient das Mitteilungsheft als Beispiel für gelebte Kommunikation, die aber eigentlich ausschließlich zwischen Lehrer_innen und Eltern stattfindet. Wenn ich mich da an mein Mitteilungsheft erinnere, waren da in einem Alter, in dem ich schon wählen durfte, noch Sachen wie Kopierbeitrag, Termin für den Wandertag oder unzureichende Heftführung von den Eltern zu unterschreiben... Das sind Angelegenheiten, die könnte man auf einer anderen Ebene ausmachen.

Für diese Frage bin ich vielleicht zu wenig Fachmann, meine Schüler sind zwischen zehn und fünfzehn. Ich kenne die Oberstufe als Lehrer nicht und meine eigenen Kinder sind auch noch nicht in diesem Alter. Man muss jedenfalls beginnen, die Schüler_innen ab einem gewissen Alter einzubinden und ja, die Kommunikation läuft zu oft über die Köpfe der Kinder hinweg.

Der Schüler Lukas ist am Ende - auch wenn Klischees bedient werden - die Figur, die am besten wegkommt...

Welche Klischees zum Beispiel?

Beispielsweise, dass Lukas nicht nur schlechte Noten hat, sondern auch gleichzeitig übergewichtig ist, den ganzen Tag am Smartphone hängt. Oder die Eltern, die vermuten, dass ihr Sohn schwul ist und Angst vor dem mysteriösen "Cybermobbing" haben.

Klar, es werden Klischees bedient, aber ist es nicht zu einem guten Teil tatsächlich so? Übergewicht findet niemand cool. Ich wollte sowohl beim Lukas als auch bei allen anderen Personen Eigenschaften darstellen, die nicht nur so "naja" sind, sondern wirklich ein Problem darstellen. Wir sind alle übergewichtig, 53% der Österreicher_innen sind es und trotzdem ist es immer noch einer der Hauptgründe für Ausgrenzung.

Dein Buch lässt sich ja als Produkt der Beziehungen von drei Gruppen - Schüler_innen/Eltern/Lehrer_innen - untereinander verstehen. Stimmst du mir zu, wenn ich sage, dass Lukas am ehesten der ist, der seinen Weg macht und dass ihm mehr Freiheiten zugestanden werden sollten? Denn eigentlich bezeichnest du dein Buch als Buch für Eltern und das werden auch die Käufer sein, nicht die Lehrer oder die Schüler.

Ja. Habt Vertrauen in eure Kinder, sie sind besser als ihr glaubt. Kümmert euch um sie, aber sie machen das schon. Lukas ist in Wirklichkeit am weitesten, was diese vermeintliche Homosexualitätsgeschichte betrifft, checkt das aus und spielt ein Spiel mit seinen Eltern. Die Mutter nimmt es nicht ernst und der Vater eiert herum, ist schwer irritiert, obwohl er so tut, als wärs ok. Auch in anderen Belangen kommen Schwächen der Eltern heraus. Lukas hat auch seine Schwächen, aber macht seinen Weg. Also wenn du das so siehst, freut mich das. Ich wollte eine Figur zeichnen, von der man glaubt, der macht das schon.

Du erntest auch regelmäßig negative Reaktionen, viel davon hängt sich an deiner langjährigen medialen Präsenz auf. Wie lässt sich es vermeiden, dass man als Experte für „eh alles" rüberkommt?

Ich glaube, die Kritik trifft kaum meine Bücher, sie trifft aber sehr wohl meine Person. Es gibt wirklich viele Leute, die finden, dass ich einen Blödsinn rede und irregeleitet bin und sich fragen, warum ich dauernd den Mund aufmache. Das sind natürlich großteils die, die schulpolitisch anders denken, das ist ideologisch begründet. Ich bin ein großer Verfechter der gemeinsamen Schule, würde aber sagen, dass 60% der Österreicher Feinde dieses Konzepts sind und daher erfahre ich aus diesem Eck wirklich viel Kritik. Dann gibt es Neider, auch aus dem Eck der Kollegen, die nicht zu unrecht sagen "ich bin Lehrer, er ist Lehrer, warum tut er so, als würde er alles besser wissen."
Da merkt man vielleicht, dass ich früher Journalist gewesen bin. Ich habe schon während meiner Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule begonnen, für den Kurier kleine Texte zu schreiben. Einerseits weils Geld dafür gab, andererseits, weil ich so viele irreale Sachen erlebt habe, die ich in den Texten unterbringen konnte. Das ist den meisten Lehrern halt nicht gegönnt, dass sie sich ihren Ärger von der Seele schreiben können. Und ich habe immer gesagt, dass ich kein Bildungsexperte, sondern Lehrer bin. Und das mit einer Meinung, die aber nicht 100% richtig sein muss. Ich glaube schon an das, was ich vertrete, aber Experte in dem Sinn bin ich nicht. Wobei die Frage sowieso besteht, ob wir nicht längst genug Bildungsexperten haben und was das bringen soll. Wenn Bildungsexperten Leute sind, die auf AHS gegangen sind, dann später auf die Universität, dann wissen die von der Hauptschule genau gar nichts, der kann eigentlich nicht begreifen, worum es letztendlich geht, auch wenn er möglicherweise sämtliche Statistiken in der Theorie kennt. Ein typisches Beispiel in der Praxis ist der beliebte und viel zitierte Hattie-Report aus Australien, der in etwa sagt, dass es letztlich auf die Lehrer-Schüler-Beziehung ankommt, ob aus dem Schüler etwas wird. Das sehe ich auch so, aber die sogenannten Experten meinen, dass dafür Strukturen nicht wesentlich seien und nur der Zugang von Lehrperson und Schüler_in zählt. Das ist Humbug. Strukturen beeinflussen die Beziehungen zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen massiv. Wenn einer der beiden nicht gern in Schule geht, kriegen die das beide mit. Bildungsexperten sind nicht der Stein der Weisen.

Du warst lange Journalist, bist jetzt Lehrer und Autor. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner deiner Berufe?

Ich will was sagen. Ich will eine Meinung äußern können und ich will überzeugen, das ist der kleine gemeinsame Nenner. Ich weiß nicht, ob ich einen Beruf ausüben könnte, wo meine Gedanken und Worte nichts zählen würden. Mein Vater war Journalist, ein großes Vorbild. Zudem bin ich in eine Schule gegangen, wo kritische Auseinandersetzung wirklich gefördert wurde. Ich müsste für andere Berufe wahrscheinlich umlernen, ich merke auch, dass das kommt und ich gerade in einer Umdenk-Phase bin. Langsam begreife ich, dass das Äußern einer Meinung und das Reden wurscht sind.
Oder doch nicht? Ich weiß es nicht. Das stellt sich auch bei der Frage, wie ich mit meinen Kindern umgehen soll. Meine Tochter will manches nicht mehr hören, auf der anderen Seite ist sie eine kritische Denkerin, vielleicht auch deshalb, weil ich sie bis jetzt nicht in Ruhe gelassen habe.Mich interessiert, warum manche Menschen so sind wie ihr zum Beispiel. Und warum andere wiederum nur auf schnelles Geld und das Prestige aus sind.

Wie und wo schreibst du?

Ich schreibe hier, zuhause. Ich setze mich einfach hin und schreibe...

Ohne Anlaufschwierigkeiten, ohne Probleme?

Naja ich schiebe es natürlich eine Zeit lang hinaus, aber bin selbstdisziplinierter Mensch. Zuerst kommt der Vertrag mit dem Verlag zustande, dann rechne ich mir aus, wann ich anfangen muss, rechne Spielraum ein und irgendwann kommt dann Tag x mit dem ersten Satz und danach flutscht es. Die Schulbücher sind ja nicht Literatur, es ist simple Unterhaltung, die ein bisserl einen Sinn hat. Aber sie stellt keinen hohen Anspruch. Weder geistig noch sonst irgendwie. Anders als die zwei Romane, die ich vor meinen Kinderbüchern geschrieben habe. Diese zwei Romane haben einen literarischen Anspruch, sind meiner Meinung nach auch sehr gut, aber damit habe ich null verdient. Ich gebe zu, ich mache es auch wegen des Geldes, ich brauche es. Mit meinem Lehrergehalt und dem von meiner Frau, die Krankenschwester ist, geht sich der Lebensstil, den ich gerne habe, nicht aus. Ich schreibe die Bücher zu einem ganz großen Teil deshalb, weil ich damit Geld verdienen will. Und deshalb tue ich mir bei diesen Schulbüchern auch nicht schwer. Ich schöpfe aus dem Alltag und muss mir keine Welt konstruieren, ich muss nicht wo hineinfallen, wo ich nicht gestört werden darf. Wenn ich an einem Roman schreibe und mein Sohn kommt herein und fragt mich etwas, dann bin ich aus dem Schreibfluss draußen.
Ehrlich gesagt ist der Schreibprozess noch das angenehme am gesamten Projekt. Wenn das Buch fertig ist, fängt der unangenehme Teil erst an. Ich gehe ungern zu Lesungen, zu Interviews, ich bin ein Morgenmensch und am Abend müde. Buchschreiben ist eigentlich mühsam, mühsamer als es der Schreibprozess an sich wäre. Früher war das anders, heutzutage muss man ein Buch fast vermarkten, als hätte man ein Zuckerl erfunden.

Aber ist das nicht ein etwas elitärer Literatur-Begriff, wenn du meinst, deine Schulbücher seien keine Literatur?

Ja das kann Sein, allerdings haben diese Schulbücher den hohen Anspruch, zu unterhalten. Das kann nicht jeder, da habe ich ein Gespür dafür, das fällt mir leicht, ohne dass ich mich wahnsinnig bemühen muss. Aber ja, vielleicht rede ich da zu sehr als Leser. Ich würde ein Buch wie das, was ich schreibe, selber nicht kaufen. Die Bücher, die ich lese, haben ganz anderen Anspruch, eine andere Schwere. Ich will beim Lesen nicht in erster Linie unterhalten werden. Und Bücher, die ich mag, lese ich immer wieder gerne. Zum Beispiel habe ich den letzten Ransmayr jetzt zum dritten Mal angefangen, ein sehr tolles Buch. Aber der kann sich halt auch acht Jahre Zeit nehmen dafür.

Letzte Frage: Was bedeutet Lesen? Was verliert man ohne es?

Ich weiß es nicht, verliert man wirklich etwas? Ich selbst würde etwas verlieren, weil ich so sozialisiert bin. Nachdem ich in einer Zeit groß geworden bin, in der es beim Fernsehen nur FS1 und FS2 gab, und weder Handy noch Computer existierten, war Lesen das primäre Freizeitvergnügen. Meine Tochter ist 13 und kippt auch leicht ins Lesen rein, sie liest ununterbrochen bis jetzt, aber langsam beginnt das Smartphone in der Zeit der Beschäftigungsdauer das Buch abzulösen. Jetzt stehe ich vor der Frage, ob ich das gut finde oder nicht. Der jüngere Sohn sieht das Vorbild seiner Schwester, für den ist dann das Smartphone natürlich auch gleich viel reizvoller. Jetzt weiß ich aber nicht, ob das gefährlich ist. Meine Schüler lesen sehr wenig. Ist das schlimm oder nicht? Ist es schlimm gewesen, als das Kino gekommen ist und die Leute nicht mehr ins Theater gegangen sind? Ist es jetzt schlimm, wenn die Leute nicht mehr ins Kino gehen, sondern sich moderierte Spiele am Laptop ansehen? Es ist der Zug der Zeit, dass diese Form von Fantasie, bei der man sich Personen imaginiert, von denen man sozusagen nur Beschreibungen kriegt, nicht mehr im Vordergrund steht. Ich weiß es wirklich nicht, ob das bedenklich ist, möglicherweise ist es völlig egal.

Danke für das Gespräch!