Am Anfang war das Wort

Norbert Gstrein geht in seinem neuesten Werk "Eine Ahnung vom Anfang" der Frage nach, welche Macht fremden Gedanken auf dem wirrnisreichen Feld des Heranwachsens zukommt. Ein Buch über Bücher, eine Geschichte über Schuld, Abhängigkeit und Suche.

Die Ruhe der durchschnittlichen Provinzstadt im Frühling wird durch eine am Bahnhof aufgefundene Bombendrohung jäh unterbrochen: "Kehret um!", lautet die eindringliche Warnung. Nach ein paar Tagen legt sich die Aufregung, die Gesprächsthemen im Lokal wenden sich wieder Alltäglichem zu, "Eine Ahnung vom Anfang" entfaltet seine Stärken. Erst nach über 300 Seiten wird es explosiv - dazwischen mäandert das Gedankenpanorama eines Individualisten dahin, der im unscharfen Fahndungsfoto einen ehemaligen Schüler zu erkennen glaubt.

Ein Sommer wie damals

Anton heißt der Ich-Erzähler, vermutlich Mitte 40, Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte und mit ausgeprägter Hassliebe zur hinterwäldlerischen Heimat ausgestattet. Von seiner Familie erfährt man wenig mehr als die überproportionale Neigung zum Freitod, die einzelgängerischen Züge des Lehrers werden durch sein reaktantes Verhalten noch verstärkt. Subversive, provokante Literatur als Pflichtlektüre zu verbreiten, traditionelle Hierarchien zu ignorieren, sich aus den Zirkeln der Verhaberung herauszuhalten - damit macht man sich in einer Kleinstadt eben nicht unbedingt zum Liebling. Genau über diese Abgrenzung definiert sich der Erzähler jedoch, die Reibungsenergie mit dem kleinbürgerlichen Milieu erhält seinen Alltag und trotz mehrerer Chancen, in die Großstadt oder ins Ausland zu gehen, hängt er an der Provinz.

In einem Schüler stößt er auf geistige Verwandtschaft. Daniel, schwierig, stolz und intelligent, sucht die Nähe zum Lehrer, der ihn mit Literatur versorgt. Gemeinsam mit einem Freund verbringen sie einen Sommer in einem alten Haus am Fluss, das sich der Lehrer als Rückzugsort zugelegt hat. Sie lesen viel, diskutieren über das Gelesene, als auch über die Stadt und das "richtige Leben", schwimmen im Fluss, kokettieren mit abenteuerlicher Robin Hood-Romantik und ignorieren die spöttischen Blicke und das brüskierte Gerede der Leute über den Spinner, der mit zwei Jungen draußen am Fluss lebt.

Dieser Sommer ist in Norbert Gstreins Werk ein zentraler Abschnitt. Er tritt als Form der Glückserfahrung auf, die einen lange begleitet. Zusammen mit Menschen zu sein, die einen verstehen und bereichern, räumlich und geistig abgeschieden vom durchschnittlichen Alltag, von einem Tag in den anderen dahinzuleben - solche Momente werden schnell verklärt und zu nostalgischem Idealismus. Manchmal erfordert der weitere Verlauf der Geschichte aber auch das neu Aufrollen und Hinterfragen. Was war denn dieser Sommer, zehn Jahre zuvor, wirklich? 

Rettung - und wenn ja: wovor?

In den Jahren nach diesem Sommer ändert sich Daniel entscheidend. Religiöses Gedankengut, biblische Metaphorik und die "Rettung" durch einen freikirchlichen Reverend aus den USA zeichnen das Bild eines Jungen, der seine Suche nach einem Lebensentwurf von subversivem Material auf das Neue Testament verlagert, das Studium abbricht, nach Israel geht, ab und an bei seinem alten Lehrer Zuflucht sucht, ohne sich aus der Reserve locken zu lassen und sich gleichzeitig alle Freiheiten herausnimmt.

Das in der Zeitung erschienene Foto und den schleichende Verdacht als Ausgangspunkt, stellt sich der Erzähler Fragen nach der eigenen Verantwortung, dem Einfluss fremder Gedanken und familiärer Vergangenheit. Dass er als Lehrer stets zu selbständigem, kontroversem Denken ermutigt hatte; dass er Daniel die gleiche Literatur empfahl, die er seinem Bruder damals zum Lesen gegeben hatte; dass er ihm ein Zufluchtsort vor den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen war - alles ein Fehler? Womöglich mitschuld am verqueren und perspektivenlosen Lebenswandel des Jungen?

Zwischen den Zeilen

In den niedergeschriebenen Gedanken fand Daniel stets Anknüpfungspunkte an eine Welt, die seiner nahe kam. Aus Versatzstücken literarischer Werke bastelte sich der Heranwachsende ein ständig im Wandel begriffenenes Konstrukt aus Erklärungsmodellen und fiktiver Verwirklichung; ein ständiges Produkt der Suche nach Wahrheit und den eigenen Ansprüchen. Man muss dieses Verhalten nicht mit der etwas kurz greifenden Begrifflichkeit des Eskapismus beschreiben, letztlich zeichnet jeden Menschen seine ganz persönliche Suche nach dem richtigen Ort, der richtigen Einbettung seines Lebens in die ihn umgebende Welt aus. Manche definieren sich dabei mehr über den Abstand zu ihrem Umfeld, manche weniger.
Den Lehrer plagen Gedanken über seinen Anteil an der offensichtlichen Weltverneinung und Radikalisierung seines ehemaligen Schülers. Je mehr Zeit verstreicht, desto größer wird seine Gewissheit, auf dem Foto Daniel wiederzuerkennen.

Schließlich überträgt sich diese nicht geäußerte Gewissheit auch auf die lokale Gesellschaft. Argwöhnischer noch als zuvor wird Anton beobachtet und mehr als einmal wird auch eine Verbindung hergestellt, die dieser unterdrücken wollte: Finden sich zwischen seinem jüngeren Bruder, von ihm mit den gleichen Büchern versorgt wie später Daniel, und dem Schüler nicht Parallelen?

Nun muss "Außenseiterliteratur" nicht zwangsläufig zum Außenseiter machen. Das Lesen der Bibel macht einen noch lange nicht zum überzeugten Christen und sowieso macht surreale Literatur einen nicht zum Weltfremden. Implizit geäußert wird in Gstreins Roman allerdings die Frage, wieviel man einem Pubertären zumuten kann; ob radikal-oppositionelle Gedanken nicht gerade in dieser Lebensphase sehr gefährlich sind oder wie das Verhältnis von Eigenverantwortung und fremder Hilfestellung aussehen kann. Es bleibt allerdings auch die profane Erkenntnis, dass Menschen sich auf ihrem Weg (zum Glück) nicht immer beeinflussen lassen und Vieles mit biografischen Details und Zufällen zusammenhängt. Das Ende des Buches lässt sicherlich viel Platz für Interpretationen und Forterzählungen. Eindeutige Antworten und dichotomische Schwarz-Weiß-Malerei sind in diesem allerdings nicht zu finden.

Ein Buch über Bücher, eine Geschichte über Geschichten

Norbert Gstreins aktueller Roman (auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis vertreten) ist - auch wenn es zu Beginn und am Ende ein wenig heiß wird - kein Kriminalroman. Er gibt auch keine Antworten auf die vielen Fragen, die sich seine Protagonisten stellen und besitzt diesen Anspruch nicht einmal.
"Eine Ahnung vom Anfang" ist vor allem ein Buch über die zwei im Titel enthaltenen Substantive: Über die Selbstreflektion, Suche, Schuld und Ungewissheit. Und über den Prozess des "Reifens", über schwierige Lebensphasen und die Umstände und sozialen Faktoren, die Charakteränderungen und einschneidende Entscheidungen herbeiführen.
Ähnlich Max Frischs "Homo Faber" handelt Gstreins Werk unter anderem von der Beziehung eines alten zu einem jungen Menschen, von wunderbaren Sommermonaten und späteren qualvollen selbstreflektiven Gedanken, Schuld und Ungewissheit. Ein Bewusstseinsroman in bester Hinsicht, der keiner spektakulären Ereignisse bedarf und von der Konzentration auf seinen Erzähler lebt.

Das zentrale Motiv der Suche versandet dabei nie in esoterischer Metaphorik, es bleibt immer greifbar. Und das ist die vermutlich größte Stärke dieses Romans -  die Bodennähe und Präzision, mit der Gstrein zu Werke geht, gleichzeitig die Kunstfertigkeit, mit der sich Sprache und Geschichte gegenseitig ergänzen.
Ganz wesentlich ist "Eine Ahnung vom Anfang" nämlich ein Buch über das Lesen, eine Geschichte vom Erzählen und Erleben, von den Wechselwirkungen zwischen Literatur und Leben, von der überwältigenden Macht der Sprache.

Eine Ahnung vom Anfang
von Norbert Gstrein
Erschienen bei Hanser
gebunden, 352 Seiten, 22,60€ (A)
ISBN: 978-3-446-24334-7

Julius Schlögl